Dieses Blog durchsuchen

Helga König im Gespräch mit Dr. Thomas Bryant

Sehr geehrter Herr Dr. Bryant, vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch "Himmlers Kinder" rezensiert. Hierzu möchte ich Ihnen heute einige Fragen stellen.

Helga König:  Warum ist das Thema „Lebensborn e.V.“ in der Aufarbeitung der Geschichte des dritten Reiches so vernachlässigt worden, obschon es sich von der Idee Heinrich Himmlers her, um ein so fundamental- perverses Ansinnen handelte, nämlich in die humane Entwicklungsgeschichte einzugreifen?


 Dr. Thomas Byrant
Dr. Thomas Bryant: Das ist eine berechtigte Frage. Obwohl die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 zur am besten erforschten Zeit der gesamten deutschen Geschichte gehören und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus längst ganze Bibliotheken füllt, stößt man als Historiker erstaunlicherweise immer wieder auf einzelne Aspekte, die von der einschlägigen Forschung bislang entweder gar nicht oder allenfalls nur vergleichsweise rudimentär und oberflächlich untersucht wurden. Das gilt für einzelne Personen, wie etwa das Wirken von weniger prominenten NSDAP-Funktionären, genauso wie für durchaus wichtige Institutionen, wie etwa das Reichsfinanzministerium. Der „Lebensborn“ bildet hier also keine Ausnahme. Deswegen habe ich mich ja auch dazu entschlossen, Himmlers Verein etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und darüber ein Buch zu schreiben.

Helga König:  Wie Ihrem Buch zu entnehmen ist, wurde um die SS- Organisation auch während der Nazizeit ein großes Geheimnis gemacht. Liegt vielleicht darin die Tatsache verankert, dass man von einem nur mäßigen Erfolg dieser Organisation sprechen kann?

Dr. Thomas Bryant: Zuerst muß etwas genauer differenziert werden: Einerseits hätte Himmler seine eigene Vereinsidee freilich vollständig konterkariert, wenn er um den „Lebensborn“ in aller Öffentlichkeit viel Aufhebens gemacht hätte. Lautstarke Propaganda, wie man sie zum Beispiel von den zahlreichen Fackelzügen der SA oder den pompös inszenierten Nürnberger Reichsparteitagen her kennt, hätten sich gewiß nur schwer mit dem gegenüber den Müttern gemachten Versprechen vereinbaren lassen, Schwangerschaft und Geburt mit allen Mitteln geheim zu halten. Andererseits bin ich bei meinen Recherchen auch auf Hinweise gestoßen, die keinen Zweifel daran lassen, daß der „Lebensborn“ – wenn auch nur in sehr bescheidenem Umfang – in der Öffentlichkeit Werbung für sich machte. Wer damals eine der wenigen Zeitungsannoncen in die Hand bekam, mit denen der „Lebensborn“ neue Frauen für sich gewinnen wollte, wird jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine höchst vage Vorstellung davon gehabt haben, was dieser Verein tatsächlich im Schilde führte. Für die meisten „Volksgenossinnen“ dürfte der „Lebensborn“ hingegen überhaupt kein Begriff gewesen sein. Dementsprechend fiel auch dessen zahlenmäßige Erfolgsbilanz recht bescheiden aus. Aber das nahm Himmler wohlweislich in Kauf, da ihm im Zweifelsfall Qualität vor Quantität ging.

Helga König: Welche Perfidie liegt der Idee zugrunde, Menschen zu züchten, um sie dann im Krieg abschlachten zu lassen?

Dr. Thomas Bryant: Solange der „Lebensborn“ bestand, war das Züchten von Menschen in der Tat eine der beängstigendsten Ideen, die in den Köpfen Himmlers und seiner Mannen umhergeisterten. Der Kriegsverlauf hat dafür gesorgt, daß diese Idee nicht im großen Maßstab realisiert werden konnte. Die entsprechenden Pläne dafür lagen aber bereits in der Schublade. Denn „Menschenmaterial“, wie die Nazis es nannten, erst gezielt zu „produzieren“, um es dann ebenso gezielt als „Kanonenfutter“ im weltweiten „Rassenkrieg“ wieder zu vernichten, ist eines der Kernelemente der nationalsozialistischen Ideologie schlechthin. Mit seinem „Lebensborn“, den man in diesem Zusammenhang wohl besser als „Todesborn“ bezeichnen sollte, beabsichtigte Himmler, diesem rein ideologisch motivierten Kreislauf aus „Auslese“ und „Ausmerze“ bedingungslos Rechnung zu tragen.

Helga König: Wenn ich an Himmlers Ausbildung denke, er war Agronom, wie weit hat dieses Studienfach ihn bei der Wahnidee Lebensborn beeinflusst?

Dr. Thomas Bryant:  Aufgrund seiner agrarökonomischen Vorbildung hatte sich Himmler bereits lange vor der Gründung des „Lebensborn“ mit der Frage beschäftigt, wie eine demographische Bestandserhaltung sowie Höherzüchtung der „arischen Rasse“ erreicht werden könnte. So engagierte er sich nach dem Ersten Weltkrieg als junger Mann in der völkisch-national ausgerichteten „Artamanen“-Bewegung, welche die „deutsche Scholle“ als Urquell „rassereinen Germanentums“ verklärte, der urbanen Lebensweise als Ausdruck von Dekadenz und Degeneration den Kampf ansagte und stattdessen einer antimodernistischen Agrarromantik frönte. Hier wurden für Himmler die Grundlagen der später als „Blut-und-Boden-Ideologie“ bekannten menschenzüchterischen Utopie des Nationalsozialismus gelegt. Im Zusammenspiel mit seiner beruflichen Qualifikation als Geflügelzüchter verfiel er auf die fixe Idee, die bekannten Zuchtmethoden für Tiere und Pflanzen auch auf den Menschen übertragen zu wollen. Das „Dritte Reich“ bot ihm schließlich die notwendigen Rahmenbedingungen dafür, um seine hochfahrenden Pläne weiterzuverfolgen und sich etwa für die Einführung der Früh- sowie Doppelehe zu engagieren. Vor allem mit der Gründung des „Lebensborn“ sollten diese Pläne konkrete Gestalt annehmen.

Helga König: Wie krank muss ein Mensch sein, der Millionen Menschen kaltblütig umbringen lässt, der sich gleichzeitig Gedanken darüber macht, wie viel Geld eine schwangere Frau für einen Liter Muttermilch bezahlt bekommt, den sie zur Verfügung stellt?

Dr. Thomas Bryant: Aus gutem Grund erscheint uns das alles heute nicht nur extrem widersprüchlich, sondern auch hochgradig pervers. Für Himmler selbst war es aber in sich schlüssig, auf der einen Seite eiskalt die rücksichtslose Verfolgung, Verschleppung und Vernichtung der von ihm ausgemachten Gegner des deutschen Volkes in die Wege zu leiten und sich im gleichen Atemzug wie ein treusorgender Vater darum zu kümmern, daß die Mütter in den „Lebensborn“-Heimen bestmögliche Bedingungen vorfinden. Völkermord und „Volksgesundheit“, Konzentrationslager und Kinderkrippen gehörten für Himmler untrennbar zusammen. Verständlicherweise neigen wir dazu, das als „krank“ zu bezeichnen. Das Problem ist nur, daß man es sich mit dieser Zuschreibung zu einfach macht und damit letztlich alles und nichts erklärt. Wir dürfen nicht vergessen, daß Himmler damals beileibe kein Einzelfall war. Denn waren die vielen anderen Himmlers auch alle einfach „nur“ krank? Es gibt psychohistorische Studien, die das auch und gerade für Hitler zu bestätigen versuchen, aber letztlich tappt hier die Wissenschaft im Dunkeln, weil man das menschliche Gehirn nicht bis in den hinterletzten Winkel ausleuchten kann – erst recht nicht bei historischen Figuren.

Helga König: Bislang bestand die landläufige Meinung darin und damit hat ihr Buch ja gründlich aufgeräumt, dass die Heime des „Lebensborn e.V.“ bessere Offiziersbordelle waren. Woher stammt diese Fehleinschätzung?

Dr. Thomas Bryant: Sie war bereits im „Dritten Reich“ eine geheimnisumwitterte Organisation. Wie bereits erwähnt, machte er um seine Existenz keineswegs prinzipiell ein Geheimnis; genauere Details hinsichtlich seiner Arbeit drangen in aller Regel aber nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Naheliegenderweise heizte dies die Gerüchteküche enorm an und sorgte für die wildesten Spekulationen aller Art – etwa die, daß es sich bei den Einrichtungen des „Lebensborn“ womöglich um „Begattungsheime“, „Beschälanstalten“ oder Bordelle handele. Es gab deshalb auch immer wieder Anfragen von einzelnen Personen, die sich an Himmlers Verein wandten, um diesbezüglich nähere Informationen in Erfahrung zu bringen. Obwohl man sich seitens der Vereinsführung vehement von solchen Gerüchten distanzierte, griffen unkritische und sensationslüsterne Publizisten nach 1945 gern darauf zurück, um die Abartigkeit des Nationalsozialismus hervorzuheben. Anhand des auffindbaren Aktenmaterials können die seinerzeitigen Mutmaßungen durch die seriöse Forschung in dieser Form zwar nicht bestätigt werden; die monströsen Menschheitsverbrechen des NS-Regimes werden dadurch allerdings in keinster Weise relativiert.

Helga König: Durch das Abschirmen der Heime und ihrer Bewohner hat sich diese SS-Organisation außerhalb der staatlichen Meldenormen bewegt. Hat dieses nicht Kompetenzstreitigkeiten nach sich gezogen?


Dr. Thomas Bryant: Selbstverständlich. Kompetenzgerangel und Konkurrenzdenken standen im „Dritten Reich“ ohnehin fortwährend auf der Tagesordnung. Der von der NS-Ideologie propagierte „Kampf ums Dasein“ machte dementsprechend auch vor Himmler und seinem „Lebensborn“ nicht halt. Daß sich ein solch kleiner Verein wie der „Lebensborn“ aber dennoch gegenüber großen und mächtigen Rivalen – wie etwa der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“ oder den gesetzlich verankerten Meldebehörden – behaupten konnte, ist gewiß dem Umstand geschuldet, daß sein Vorsitzender zugleich auch zu den mächtigsten Männern in Hitlers Führungsriege gehörte. Wann immer Himmler es für notwendig erachtete, sich über bestimmte Personen, Organisationen sowie über Recht und Gesetz hinwegzusetzen, dann tat er dies auch – kraft eigener Autorität und ohne Rücksicht auf Verluste. Immerhin hatte er sich mit seinem SS- und Polizeiapparat förmlich einen übermächtigen Staat im Staate geschaffen, dem sich nichts und niemand dauerhaft entgegenzustemmen vermochte. Davon profitierte schließlich auch der „Lebensborn“ gleichsam als „Zögling“ der SS.

Helga König: Wie ist man nach Ende des Dritten Reiches mit den Kindern verfahren, die nicht über die Identität ihrer leiblichen Eltern aufgeklärt waren, weil der „Lebensborn e.V.“ ihre Vormundschaft übernommen hatte?

Dr. Thomas Bryant: Im günstigsten Fall haben „Himmlers Kinder“ – vermittelt durch die zuständigen Behörden – ein neues Zuhause bei Pflegeeltern gefunden, wo sie in einem familiären Umfeld aufwuchsen. Dies allein war aber noch keine Garantie dafür, daß sie auch tatsächlich eine unbeschwerte Kindheit und Jugend hatten. Das hing freilich sehr von den jeweiligen Eltern ab. Nicht selten blieben die Kinder auch unter behördlicher Obhut. In diesen Fällen entschieden die Jugendämter, diejenigen Kinder, für die keine Pflegeeltern gefunden werden konnten, ins Heim zu schicken. Wie dem auch sei, die quälende Frage nach der eigenen Identität kam früher oder später bei den meisten auf. Die daran sich anschließende Odyssee der Spurensuche nach der eigenen Vergangenheit war damals allerdings nicht immer von Erfolg gekrönt – und sie ist es teilweise bis heute nicht.

Helga König: Gibt es Geheimregister, in denen die Organisation die tatsächlichen Daten aller Personen aufgenommen hat, die jemals im „Lebensborn e.V.“ aktiv geworden sind?

Dr. Thomas Bryant: Die SS hat selbstverständlich mit der ihr eigenen „deutschen Gründlichkeit“ genau über alles und jeden Buch geführt, um ihren unersättlichen Datenhunger zu stillen. Schließlich wollte man nichts dem Zufall überlassen und später im – wie auch immer gearteten – Bedarfsfall gezielt auf diese oder jene „Lebensborn“-Mutter bzw. auf ein ganz bestimmtes „Lebensborn“-Kind zurückgreifen. Beide gehörten ja schließlich der neuen „rassischen Elite“ an. Wenn man sich schon die Mühe machte, alle möglichen Vorgänge peinlich genau zu registrieren – von der Aufnahme der schwangeren Mutter in ein Heim bis zu ihrer Entlassung mit oder ohne Kind –, dann sollte sich dieser bürokratische Aufwand für die SS auch irgendwie bezahlt machen. Ein gutes Beispiel dafür waren die sogenannten „RF-Bögen“ zur rassischen, charakterlichen und ideologischen Qualitätsbeurteilung der Mütter. In seiner Doppelfunktion als Reichsführer-SS und Vorsitzender des „Lebensborn“ sichtete Himmler diese Bögen höchstpersönlich und fällte danach ein abschließendes Urteil. Etliche dieser Bögen, die damals streng geheim waren, liegen heute im Archiv. Gleiches gilt für Aufnahmebögen, Geburtsnachweise, Vaterschaftsanfechtungen, Personalakten usw., die selbstverständlich ebenfalls unter Verschluß gehalten wurden. Vieles davon ist heute allerdings nicht mehr auffindbar, da am Ende des Zweiten Weltkrieges die US-Alliierten zahlreiche „Lebensborn“-Akten vernichteten. Darüber hinaus scheint es ein gesondertes „Geheimregister“ allerdings nicht gegeben zu haben.

Helga König: Wie steht es um eine Entschädigung dieses missbrauchten Personenkreises? Hat man jemals im Zuge der Demokratisierung unseres Landes daran gedacht, diesen Menschen in irgendeiner Weise Hilfe zukommen zu lassen?


Dr. Thomas Bryant: Wie so viele andere Dinge, die im Zuge der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nach 1945 – sehr gelinde gesagt – „suboptimal“ gelaufen sind, gehörte auch die Beschäftigung mit einem ehemaligen SS-Verein namens „Lebensborn“ nicht gerade zu den vordringlichsten Themen der bundesdeutschen Nachkriegspolitik. Nach zwölf Jahren Diktatur, sechs Jahren Krieg und einem Völkermord obendrein gab es Abermillionen von Opfer unterschiedlichster Art und Größenordnung. Für „Himmlers Kinder“ und die Mütter des „Lebensborn“ interessierte sich in diesem Kontext jedoch niemand so recht. Die vor allem psychischen Spätfolgen waren und blieben das persönliche Schicksal der davon jeweils Betroffenen, ohne daß dies mit einer nennenswerten Hilfe seitens des Staates verbunden gewesen wäre. Die Erinnerung an dieses Stück Geschichte wach zu halten und den Menschen dadurch zu zeigen, daß man sie nicht vergessen hat, mag ihnen zumindest ein klein wenig Trost spenden. Nicht nur als Historiker, sondern mehr noch als Mensch würde es mich jedenfalls sehr freuen, wenn ich mit meinem Buch – über das rein Wissenschaftliche hinaus – dazu einen bescheidenen Beitrag leisten könnte.

Lieber Herr Dr. Bryant, ich danke Ihnen für dieses aufschlussreiche Interview.
Ihre Helga König

Kostenfreies aus dem Bestand von Dr. Thomas Byrant. Der Fotograf ist mir nicht bekannt.
Bitte klicken Sie auf den Button,dann gelangen Sie zu Amazon und können das Buch bestellen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen