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Helga König im Gespräch mit Arno und André Stern

Lieber Herr Arno Stern und lieber Herr André Stern, vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch »Mein Vater mein Freund«, das Sie gemeinsam verfasst haben, rezensiert. Hierzu möchte ich Ihnen einige Fragen stellen.

Helga König: Lieber Herr Arno Stern, Sie haben in Ihren jungen Jahren, wie Sie im Buch schreiben, Gott als moralische Instanz angesehen. Heute begreifen Sie sich als einen atheistischen Juden. Wer ist heute Ihre moralische Instanz? Ihr Gewissen oder Ihre abwägenden Überlegungen zu einem Sachverhalt oder beides?

Arno und André Stern
(c)Verlag Zabert Sandmann / Peter Lindbergh
Arno Stern: Ich glaube nicht an einen allmächtigen Gott, der die Welt erschaffen hat und dessen Gnade wir erbitten und verdienen sollen. Vor Jahren habe ich auf eine ähnliche Frage geantwortet: „Gäbe es diesen Gott, er hätte mir nichts vorzuwerfen, und auch nichts zu verzeihen!“ Meine Lebenseinstellung ist nicht nur mit den religiösen Moralvorschriften im Einklang; sie geht viel weiter als die Anordnung der zehn Gebote. Meine Verehrung alles Lebendigen und die Verbundenheit mit der Natur haben seit je auch mein Verhalten zu den Menschen bestimmt. Dieses Verhalten hängt wohl damit zusammen, dass ich Vegetarier bin, nicht rauche, nicht trinke, keiner Sucht verfalle. Noch etwas: ich fühle mich wohl in der Gegenwart von frommen Menschen – wohl und geborgen und ich verehre ihre Gebete, und über alles, ihre Musik.

Helga König: Sie haben als Kind unsägliches Leid durch den Naziterror erfahren. Ihre Verwandten wurden in Konzentrationslagern ermordet, Sie und Ihre Eltern verloren Hab und Gut und hatten es auch in Frankreich während der Nazizeit nicht einfach. Konnten Sie diese Jahre dadurch ohne Traumatisierung überstehen, weil Sie sich von Ihren Eltern besonders geliebt fühlten?

Arno Stern: Ich hatte eine wunderschöne Jugendzeit, die materielle totale Enteignung, vergleichbar mit der mönchlichen Askese, öffnete mich der Musik, der Poesie, der Malerei. Beethoven, Van Gogh und Rilke standen mir näher als die Menschen in meinem Alltag. Und ich sagte, zum Unterschied von manchen Emigrierten, die alles Deutsche ablehnten, dass ich mir von Goebbels nicht meine deutsche Kultur verderben lasse.


Helga König
Helga König: Sie schreiben, Ihr Vater sei ein intuitiver Vernunftmensch und ein Glückskind gewesen. Sie berichten auch, dass Ihr Vater stets im Jetzt lebte und sehr viel Vertrauen in seine Schaffenskraft hatte, sich letztlich von seinem inneren Engel führen ließ. Haben Sie sich im Hinblick auf diese lebensphilosophische Einstellung ihren Vater zum Vorbild genommen und wenn ja, hat dies zu ihrem Erfolg und Ihrem Glück im Leben beigetragen?

Arno Stern: Vorbild ist nicht das richtige Wort. Unsere Verbundenheit, würde ich lieber sagen; und sogar, für unser selbstverständliches Einverständnis, die Bezeichnung Treue anwenden.

Im Wesen meines Vaters vereinten sich zwei Begriffe: Tradition und Fortschritt. Obwohl wir – er der vom Zeichen des Wassermanns, ich von demjenigen des Krebses bestimmt – in Vielem ganz verschieden waren, ist er mir ein dauerhaftes Vorbild gewesen und ich berief mich immer wieder auf seine Meinung. Er, seinerseits verstand meine Unternehmungen, stimmte ihnen zu und unterstützte sie bedingungslos. Bekannte sagten mir: warum willst du dich in ein unsicheres Unternehmen begeben, anstatt in das von deinem Vater einzutreten? Mein Vater hingegen vertraute mir und zweifelte nicht an meinen Fähigkeiten; ihm gefiel auch das originelle, neuartige daran.


Helga König: Sie haben sich im Rahmen Ihrer Malkurse um das Wohl von Kindern gekümmert. Wie hat sich Ihr Sohn André im Kreise all der Kinder als Kind einst verhalten? Was hat er nach Ihrer Ansicht durch die anderen kreativen Kinder gelernt?

Arno Stern: André – wie auch Eléonore – können sich das Leben ohne den Malort gar nicht vorstellen. Sie sind gewissermaßen in den Malort hineingeboren, so etwa wie ein Kind auf dem Land inmitten des Bauernhofes groß wird.
Das Malspiel war ihnen selbstverständlich, und dass ihr Vater darin tätig ist gehörte zu alledem, was sie von ihm wussten, das, was sie mit ihm verband – und woran sie weiterhin beteiligt sind.
Im Malspiel gibt es keine Vorbilder, jeder erlebt sich selbst inmitten aller anderen. Und so geschah es natürlich bei André, der nicht angeregt zu werden musste, der nur, wie jedes Kind, die Möglichkeiten des Malortes ausnutzte.


Helga König: Können Sie kurz erklären, was man unter Ihrer Entdeckung der "Formulation" zu verstehen hat?

 Arno und André Stern
(c)Verlag Zabert Sandmann/
Peter Lindbergh
Arno Stern: Die Spur auf dem Blatt dient üblicherweise der Vermittlung einer Botschaft – das geschieht mit den Mitteln der Schrift oder des Bildes. Der Sichäußernde erwartet eine Rückwirkung, stellt sich auf diese ein, hängt vom Gelingen oder vom Missglücken seiner Äußerung ab.

Im Malort entsteht aber eine andersgeartete Äußerung – eine Spur, die nicht für einen Empfänger bestimmt ist – die überhaupt keine Bestimmung hat, sondern nur geschieht, und von der der sich Äußernde beglückt ist. Weil seine Spur von der Verpflichtung, verständlich zu sein befreit ist, kann ihr eine andere Rolle obliegen: sie ist dann Ausdruck der Aufspeicherungen in der Organnischen Erinnerung die, jenseits jeglicher Überlegung und Absicht, sich aus einer inneren Notwendigkeit der Hand aufdrängen und zu Gebilden werden. Es sind keine willkürlichen Gebilde, sie gehören einem Kode an. Es handelt sich um ein Universal-Gefüge, das der gesamten Menschheit angehört.

Der Malort hat die Bedingungen zu dieser nie zuvor berücksichtigten Äußerung geschaffen, deren Besonderheit ich bemerkte und deren Abläufe ich im Laufe vieler Jahre verfolgt habe. Als Formulation bezeichnet unterscheidet sich diese Äußerung von der Kunst.


Helga König
Helga König: Wann haben Sie und Ihre Frau sich entschieden, Ihren Sohn jenseits von Schule, Noten und Wettbewerb aufwachsen zu lassen und wieso gab es mit den französischen Behörden keine Probleme oder gab es welche?

Arno Stern: Meine Frau und ich wussten, wie kostbar die natürliche Spur des Kindes ist, und wie sehr ihr jegliches Eingreifen schadet. Wir lebten mit unseren Kindern zusammen, nahmen ihr endloses Erproben und Erfahren wahr, und wussten, dass dies wertvoller ist, als das programmierte Lernen. Wir waren in dieser Überzeugung durch das ständig kreative Verhalten unserer Kinder bestätigt. Da in Frankreich keine Schulpflicht besteht hatten wir keinerlei behördliche Hindernisse zu überwinden.


Helga König: Sehr geehrter Herr André Stern, fühlten Sie sich als kleiner Junge ausgegrenzt, weil Sie nicht zur Schule gingen? Wie haben sich andere Kinder gegenüber Ihnen verhalten?

André Stern: Ich war in ständigem Kontakt und Austausch mit anderen Menschen, es war Leben in natürlicher Grösse, dieses große Bad in welchem die Verschiedenartigkeit der Bildungen, der Hautfarben, der Altersstufen, der Religionen, der sozialen Schichten gelebte Realität ist, die jegliches Vergleichen (und daher jede Form der Konkurrenz) ausschließt. Die gegenseitige Bereicherung ergab sich gerade aus diesem vielfältigen und kosmopolitischen Umfeld. Das Leben auf der Erde ist eine wimmelnde Gemeinschaft aller Erscheinungen der Natur, wie könnte man sich darin ausgegrenzt fühlen? Die anderen Kinder haben sich mit mir nicht anders als mit anderen Kindern verhalten, denn Kinder sind unvoreingenommene Wesen die gerne staunen aber nicht bewerten. Als die anderen Kinder erfuhren, dass ich nicht in die Schule gehe, haben alle immer gesagt: „Mensch, hast Du Schwein!“


Helga König: Sie schreiben, dass Sie als Kind bereits zahlreiche Kurse besucht haben. Was darf man sich darunter im einzelnen vorstellen?

 Arno und André Stern
(c)Verlag Zabert Sandmann / Peter Lindbergh
André Stern: Die besuchten Kurse spiegeln nicht die Gesamtheit der Bereiche wider, die mich fasziniert haben, aber ich liefere Ihnen hier gerne eine kleine von meinem Buch „...und ich war nie in der Schule“ abgeleitete Auswahl: Tanz, Musik, Algebra, Metalltreiben, Fotografie (Labor), Gesang, Weben, Textilkunst, Kampfsport aus Indien, Informatik, Englisch, Theater, Keramik, Geometrie, Lesungen im Collège de France mit Pierre Bourdieux (Soziologie), Jean Leclant (Ägyptologie), George Duby (Geschichte des Mittelalters)...


Helga König: Ich teile mit Ihnen viele Betrachtungsweisen und bin beispielweise auch der Ansicht, dass man alles lernen kann, was der eigenen momentanen Beschäftigung entspricht, sofern die entsprechenden Begabungen es zulassen. Auch bin ich davon überzeugt, dass Menschen die ihren Begabungen entsprechend aktiv sind, nicht in den Kategorien Arbeit und Freizeit, Job und Urlaub, Berufs- und Privatleben, Lernen und Erholen denken müssen. Natürlich stellt sich die Frage, ob sich ein solches Muster für alle oder doch nur für eine priviligierte Gruppe, die ich nicht Schicht nennen will, umsetzen lässt. Was meinen Sie dazu?

André Stern: Mich erstaunt dieser regelmäßig wiederkehrende Einwand: "Ja, ABER Du hattest ja das grosse Glück unter genau idealen Bedingungen aufzuwachsen: nicht alle haben dieses Glück!"

Aber was kann denn Kindern, die nicht dieses Glück haben, mehr helfen, als genau unsere Kenntnisse darüber, wie ein Kind - in unserer Gesellschaft - unter den von allen Denkern, Hirnforschern und Spezialisten als ideal dargestellten Bedingungen aufwächst?

Wir haben darüber eigentlich keine Kenntnisse aus erster Hand, sondern nur Ahnungen und Fragen. Meine Geschichte liefert Antworten auf diese Fragen, und Beweise dafür, dass sich alle Denker, Hirnforscher und Spezialisten nicht irren. Und übrigens... wir sind keine wohlhabende Familie, und waren nie eine. Für uns hatte es Priorität, zusammen zu sein. Wir opferten Entwicklungsmöglichkeiten nicht der finanziellen Sicherheit und machten aus unserem Zuhause einen Ort des Friedens. 

Wir begnügten uns mit wenig, aber verzichteten nicht auf das Wahre. Unsere Prioritäten mögen seltsam erscheinen: Wir hatten keinen Fernseher, und brauchten somit nicht, einen neueren zu kaufen; unser Auto wurde gefahren, bis es auseinanderfiel, ohne dass wir vorher das Bedürfnis hatten, ein neues Auto zu kaufen; wir mussten keine teuren Urlaube oder Freizeitaktivitäten finanzieren, um Zeit miteinander zu verbringen oder uns vom Alltag zu erholen, denn er ermüdete uns nicht; wir hatten nicht das Bedürfnis, nach der neuesten Mode gekleidet zu sein. Dagegen verzichteten wir nicht auf Bücher oder Schallplatten und gingen keinerlei Kompromisse bei der Qualität der Nahrungsmittel ein…


Helga König: Meinen Sie nach Ihren Eigenerfahrungen, dass sich Fortune nur dann zeigt, wenn die Liebe den Ort des Geschehens bestrahlt? Ist die Liebe das Geheimnis für das Glück von Menschen? Bleibt immer dort, wo die Liebe mit Füßen getreten wird, nur verbrannte Erde zurück?

Arno und André Stern: Liebe UND Vertrauen! Wir sind beide glückliche Söhne glücklicher Väter. In der Kindheit von Arno wurde alles mit Nazistiefeln getreten, aber zwischen ihm und seinen Eltern herrschte Liebe und Vertrauen, so dass er trotz ständiger Angst und Demütigung von einer glücklichen Kindheit berichtet. Daraus lernen wir, dass die materiellen Umstände keine Rolle spielen und dass man diese Voraussetzungen in jeder Familie, in jeder Lage schaffen kann, wenn man genügend informiert ist, um eigene Entscheidungen zu treffen, die das Zuhause des Kindes bestimmen und ihm Schmiedewerkzeuge für das eigene Glück und für das ganze Leben geben. Gewiss das Geheimnis glücklicher Söhne...


Lieber Herr Arno Stern und lieber Herr André Stern, ich danke Ihnen für das aufschlussreiche Interview.


Ihre Helga König

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