Lieber Herr Schindler, dieser Tage habe ich Ihr Buch "Die Rüpel-Republik" rezensiert. Hierzu möchte ich Ihnen heute einige Fragen stellen.
Helga König: Gibt es Untersuchungen, denen man entnehmen kann, wann sich in etwa unsere Gesellschaft zur Rüpel-Gesellschaft verwandelt hat?
Jörg Schindler Foto: Franziska Buddrus |
Helga König: Ist Rechthaberei nach Ihrer Meinung ein typisch deutsches Phänomen und ein Pusher in Sachen Rüpel-Gesellschaft?
Jörg Schindler: Ich glaube, das Problem ist weniger Rechthaberei, sondern eher die stetig abnehmende Bereitschaft, sich an gewisse soziale Regeln zu halten, Rücksicht zu nehmen, überhaupt anzuerkennen, dass man von Menschen umgeben ist, die auch eigene Interessen haben. Ich halte das aber nicht für ein typisch deutsches Phänomen, es lässt sich in allen westlichen Industriestaaten beobachten - sogar in England, dem vermeintlichen Mutterland des Anstands.
Helga König: Können Sie Bedingungen anführen, die kooperatives und die egoistisches Verhalten entstehen lassen?
Jörg Schindler: Die Verhaltensforschung hat sich in den letzten Jahren darauf geeinigt, dass soziales und hilfsbereites Handeln so etwas wie der "Naturzustand" des Menschen ist. Insofern muss man in der Tat fragen, wieso der Egoismus immer mehr Überhand nimmt. Ich denke, das hat vor allem mit der oben beschriebenen Entwicklung zu tun. Das Problem dabei ist: Die Wissenschaft geht davon aus, dass wir "conditional cooperators" sind - anders gesagt, dass wir so lange kooperativ sind, so lange es die anderen auch sind. Das heißt aber auch: Je häufiger Menschen einfach mal ihr Ding machen, desto häufiger ahmen andere es nach. Ein Teufelskreis.
Helga König: A und O für ein gutes Miteinander, scheint Vertrauen zu sein. Darüber schreiben Sie konkret auf Seite 76. Was können wir tun, um das Misstrauen untereinander zu mindern, wie können wir Vorurteile beim Gegenüber minimieren oder gar beseitigen?
Jörg Schindler: Vertrauen wächst im Umgang miteinander. Wir dagegen vereinzeln immer mehr. Es gibt immer mehr Geschiedene, Alleinerziehende, Ein-Personen-Haushalte, die Leute gehen immer seltener in Vereine, in Parteien oder einfach nur zu Grillfesten mit Nachbarn. Jeder bleibt für sich. Im Ergebnis wächst das Misstrauen. Ein Gegengift kann eigentlich nur sein, wieder zu erkennen, dass Gemeinschaft Spaß macht und dass man Verhältnisse, die man beklagt, auch nur in der Gruppe verändern kann.
Helga König: Sie schreiben, dass wir uns alle immer mehr von Freunden und Nachbarn entfernen und immer mehr vereinzeln, was unsere Freizeitaktivitäten anbelangt. Kann es sein, dass das Misstrauen anderen gegenüber diesen Zustand herbeigeführt hat, ist Angst eventuell die Ursache allen Übels?
Jörg Schindler: Das ist die Frage nach Henne und Ei. Ich weiß nicht, was zuerst da war, glaube aber, dass Angst eher eine Folge dieser zunehmenden Vereinzelung ist.
Helga König: Sie schreiben weiter, dass exzessiver Konsum von Unterhaltungsfernsehen Menschen nicht nur materialistischer – sondern auch aggressiver macht. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um die Masse der Fernsehsüchtigen von den Geräten „wegzulocken“?
Jörg Schindler: Naja, es wäre schon einmal viel geholfen, wenn im Fernsehen nicht nur abstumpfender Schwachsinn gezeigt würde und nicht nur Schein-Dokumentationen über die Randständigen dieser Gesellschaft. Da wären meins Erachtens vor allem die Öffentlich-Rechtlichen gefragt, die per Gesetz einen Bildungsauftrag haben, diesen aber schon lange nicht mehr erfüllen. Wenn den Menschen, statt sie immer nur zu berieseln, auch mal vorgeführt würde, was es da draußen für konkrete Möglichkeiten der Beteiligung und Entfaltung gibt, könnte das Medium Fernsehen durchaus auch eine positive Wirkung im Hinblick auf Sozialverhalten haben.
Helga König: Wie erklären Sie sich die Aggression im Netz und könnte diese minimiert werden, wenn das Posten mit Realnamen eine Grundvoraussetzung wäre, um dort agieren zu können?
Jörg Schindler: Zunächst mal: Kommunikation besteht zu rund 70 Prozent aus Körpersprache, zu 20 Prozent aus emotionalen und bio-chemischen Prozessen und nur zu 10 Prozent aus verbalem Austausch. Das heißt, wer ausschließlich über digitale Medien kommuniziert, tut das auf einer 10-Prozent-Basis. Da geht allerhand verloren, vor allem die Fähigkeit, Vertrauen auszuprägen. Zudem ist es natürlich viel einfacher, jemanden zu beleidigen, der nicht direkt vor einem sitzt. Und noch viel einfacher ist es, wenn die eigene Identität geheim ist. Insofern halte ich die Anonymität im Netz durchaus für einen Katalysator von rüpelhaftem Verhalten. Ich weiß allerdings nicht, ob ein Klarnamen-Gebot der Königsweg ist. Erstens ist es spielend einfach zu umgehen. Und zweitens würde damit ja auch nur ein Symptom bekämpft und nicht die Ursache dieser merkwürdig zunehmenden Aggressivität.
Helga König: In welcher Weise müsste man politische Zielvorgaben verändern, um ein positives Miteinander der Bürger zu forcieren?
Jörg Schindler: Ich glaube nicht, dass die Politik uns "heilen" kann. Das müssen wir schon selber tun. Und dafür ist es meiner Ansicht nach erst einmal nötig, dass wir uns darüber verständigen, wie unerfreulich und nervtötend unser täglicher Umgang miteinander ist. Wir müssen bei uns Zuhause, unter Verwandten und Freunden, darüber reden. Diese anti-soziale Seuche hat ja mit Kleinigkeiten, mit Unachtsamkeiten begonnen - also muss man auch im Kleinen wieder damit beginnen, das umzudrehen.
Helga König: Was können Eltern und Lehrer tun, um Kinder nicht zu Egoisten verkommen zu lassen?
Jörg Schindler: Genauso viel wie alle anderen auch. Wobei die Erziehung natürlich eine Rolle spielt. Ich habe mitunter schon den Eindruck, dass viele Eltern schlicht nicht wissen, dass Kinder auch Grenzen brauchen. Sie immer und überall alles machen zu lassen, ist jedenfalls die beste Voraussetzung dafür, dass aus den späteren Erwachsenen egomane und ignorante Ichlinge werden.
Helga König: Haben junge Menschen in unserer Gesellschaft eine Chance, wenn sie sich in erste Linie kooperativ verhalten?
Jörg Schindler: Ja warum denn nicht? Ich kenne eine Menge Leute, auch junge Leute, die sehr anständig durchs Leben gehen. Mag sein, dass die an der roten Ampel oder in der Bäckerschlange das Nachsehen haben, wenn sie sich stets korrekt verhalten. Aber ich bin sicher, dass es ihnen auf lange Sicht besser geht. Es gibt diesbezüglich auch sehr interessante Studien, die belegen, dass freigiebige, hilfsbereite und kooperative Menschen eine deutlich höhere Lebensqualität haben als solche, die immer nur auf ihren eigenen Vorteil achten.
Helga König: Welche Lösungsvorschläge haben Sie, um unsere Rüpel-Republik zu einem Ort zu verändern, an dem man Rüpeln die rote Karte zeigt?
Jörg Schindler: Wie gesagt: Ich denke, vor allem anderen ist entscheidend, dass wir wieder den Wert der Gemeinschaft entdecken. In welcher Form auch immer. Wenn man sich umschaut, wird man auch feststellen, dass es seit einigen Jahren eine wachsende Bewegung von Menschen gibt, die offenbar die Schnauze voll haben von einem exzessiven Ego-Trip. Das sind Menschen, die sich in Dörfern zusammen tun, um wieder einen Tante-Emma-Laden zu gründen; Menschen, die gemeinsam ein Stück Land bewirtschaften oder gemeinsam Autos und andere Nutzgegenstände benutzen; Menschen, die sich zu Energie-Genossenschaften zusammentun und so weiter. Da ist eine richtige Bewegung am entstehen, und allen Teilen ist gemeinsam, dass dort Menschen mit ihnen fremden Menschen etwas Neues ausprobieren. Ich weiß nicht, ob das schon die Lösung ist, aber es ist immerhin ein Anfang. Denn auf diese Weise kann man ganz gut feststellen, dass wir viele sind - das sind auf jeden Fall schon mal gute Voraussetzungen, um vielleicht wirklich mal eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse hinzubekommen.
Lieber Herr Schindler, für dieses aufschlussreiche Interview danke ich Ihnen herzlich.
Ihre Helga König
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