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Helga König im Gespräch mit Dr. Till Bastian

Sehr geehrter Herr Dr. Bastian,  vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch "Die seelenlose Gesellschaft- Wie unser ich verloren geht " rezensiert. Dazu möchte ich Ihnen einige Fragen stellen. 

Helga König: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Gegenwartsmensch, also wir alle, weniger durch unser Gewissen gepeinigt werden als dadurch, dass unsere Lebensrealität nicht mit unseren Wunschvorstellungen und Größenphantasien übereinstimmen. Welche Folgen hat dies für uns alle?

Dr. Till Bastian
Dr. Till Bastian: Die hauptsächliche Folge ist eine zunehmende Außensteuerung, wir sind „other-directed“, wie es der berühmte Soziologe David Riesman genannt hat. Es kostet uns große Mühe und erheblichen Aufwand, im „mainstream“ mitzuschwimmen und nicht unterzugehen, und wir orientieren uns in Verhalten, Ziel und Richtung an den anderen und insbesondere an jenem Bild, das in den Medien von den anderen entworfen wird. Ein Musterbeispiel dafür ist jenes junge Paar in den USA, das im Internet eine Abstimmung darüber durchführen wollte, ob es sein Kind abtreiben lässt oder nicht. 

Helga König: Worin besteht das Hauptproblem der Identität in der technokratischen Gesellschaft? 

Dr. Till Bastian: Die immer weiter beschleunigte Mobilität in allen Lebensbereichen (zum Beispiel, wenn es bald nur noch befristete Arbeitsverhältnisse gibt!) und die enorme Reizüberflutung im Alltag machen es schwer, einen stabilen Persönlichkeitskern zu entwickeln, ein räumlich und zeitlich stabiles Selbst heranzubilden. Wir werden zu Menschen, die in einer Art von fortwährendem Multi-tasking ständig wechselnden Rollen mehr schlecht als recht gerecht zu werden versuchen, ohne in einer von ihnen wirklich heimisch zu sein. Das kostet viel Kraft und Energie und macht uns zu entwurzelten Sozialnomaden, die ständig vom Zerfall ihres instabilen Selbst bedroht sind.

Helga König: Sie berichten von dem Phänomen des „Hikkikomori“ in Japan. Halten Sie es für möglich, dass bei uns in Europa es zukünftig auch ein verstärktes Einsiedlertum geben wird und welche Folgen könnte das für die Gesellschaft haben?

Dr. Till Bastian: Dieses Einsiedlertum gibt es bereits und seine Folgen sind gravierend – das soziale Leben trocknet aus, weil es immer stärker am gemeinschaftlichen Engagement magelt. So wird es zum Beispiel immer schwerer, Menschen zu finden, die ehrenamtliche Tätigkeiten jedweder Art übernehmen. 

Helga König: Sie erwähnen in diesem Zusammenhang auch das „Syndrom seelischer Stagnation“. Werden junge Menschen, die ihre Zeit mit Computerspielen hauptsächlich verbringen, zukünftig verstärkt ein Fall für die Psychologen werden? 

Dr. Till Bastian: Sie sind es bereits, ich begegne ihnen immer öfter auch hier in der Klinik, in der ich arbeite. Die äußere Stimulation, von der diese jungen Menschen wie bei einer Sucht abhängig sind, geht einher mit einem lähmenden Gefühl der inneren Leere und mit einer wachsenden Unfähigkeit, das eigene Leben selbständig zu bewältigen. Lieber harrt man im „Hotel Mama“ aus, so lange es irgend geht. 

Helga König: Kommt es in einer seelenlosen Gesellschaft häufiger zur moralischen Verwahrlosung und steigender Gewaltbereitschaft des Einzelnen und falls ja, weshalb? 

Dr. Till Bastian: Moral funktioniert eben nur dann, wenn sie auf einem inneren Navigationssystem beruht. Fällt dieses System aus, droht der Kampf aller gegen alle, bei dem allenfalls durch Abschreckung und Angst die größten Exzesse verhindert werden. Genau in diese Richtung entwickeln wir uns. 

Helga König: Sie schreiben, dass ohne Innerlichkeits-Anspruch ein flexibles Zusammenspiel zwischen Körper und Seele nicht möglich ist. Wie kann der Einzelne diesen so wichtig Anspruch aus sich heraus entwickeln? 

Dr. Till Bastian: Der Grundstein wird natürlich in der Erziehung gelegt – und Eltern, die ihre Kinder ständig vor den Bildschirm setzen, leisten diesbezüglich schlechte Arbeit. Später kommt es darauf an, die eigene Selbstwirksamkeit aktiv zu erfahren – in Spiel, Sport oder Kunst – und zwar durch direkte, nicht durch technisch vermittelte Sinneserlebnisse. Kinderärzte haben schon vor Jahren Alarm geschlagen, dass die Kinder über einfache Fertigkeiten – zum Beispiel bei geschlossenen Augen auf einem Balken balancieren – in immer geringerem Maße verfügen. Hier ist etwas ganz gewaltig aus dem Ruder gelaufen. 

Helga König: Können Sie in knappen Worten den Lesern mitteilen, was Sie unter dem Begriff "sekundäres System" verstehen ? 

Dr. Till Bastian: Das „sekundäre System“ – der Begriff stammt von dem deutschen Soziologen Hans Freyer – ist das Groß-System der Technik, das sich wie ein Keil zwischen uns und unsere natürlichen Lebensgrundlagen (zum Beispiel den Wechsel der Jahreszeiten) geschoben hat und dazu führt, dass uns diese Lebensgrundlagen in wachsendem Maß fremd geworden sind. 

 Helga König: Was können wir tun, damit das sekundäre System unsere Identität nicht weiter zerstört? 

Dr. Till Bastian: Uns nicht mehr so sehr von den technischen Neuerungen faszinieren und uns von ihnen Lebenszeit rauben lassen; mehr Zeit dem direkten Umgang mit der Natur widmen (bei mir vor allem das Wandern in den Bergen), mehr Raum für Kunst und Kreativität zur Verfügung stellen. 

Helga König: Ist es denkbar, dass kommende Generationen soziale Verwahrlosung als Normalität begreifen werden und die Innerlichkeit gar nicht mehr vermissen werden? Verabschiedet sich der Mensch allmählich vom Menschsein, im Sinne „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut?“

 Dr. Till Bastian: Exakt diese Befürchtung habe ich. 

 Lieber Herr Dr. Bastian, ich danke Ihnen aufs Herzlichste für das aufschlussreiche Interview. 

 Ihre Helga König 

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