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Helga König im Gespräch mit Prof. Dr. Martin Seel

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Seel, vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch "111 Tugenden, 111 Laster- Eine philosophische Revue"  rezensiert. Hierzu möchte ich Ihnen einige Fragen stellen.

Helga König: Sie heben in Ihrem Buch hervor, dass dessen Hauptteil wie eine Regietheater-Inszenierung der Nikomachischen Ethik gelesen werden könne. Viele Tugenden, so habe bereits Aristoteles gesagt, sind heikle Balancen, die nur mit Mühe gehalten werden können. Können Sie uns Lesern in wenigen Worten schildern, was Sie damit meinen?

Foto: Walter Breitinger

Prof. Dr. Martin Seel: Tugenden wie Laster sind charaktergebundene Haltungen der Menschen, die sich in ihrem Handeln manifestieren. Sie sind aus Erziehung, Erfahrung und Übung gewonnene Vor-Einstellungen, mit denen wir uns in die verschiedenen Situationen unseres Lebens begeben. Jede Tugend aber, so beschreibt es schon Aristoteles, grenzt nicht nur an benachbarte Tugenden, sondern ebenso an benachbarte Laster an. Sobald man es mit einer Tugend über- oder untertreibt, kann sie zu nachteiligen bis schlechten Handlungsweisen führen – sowohl für uns selbst als auch für die anderen, mit denen wir es zu tun habe. Ähnliches trifft aber auch auf die meisten Laster zu. Sie sind sie Eigenschaften von Personen, die zwar in der Regel zu einem Mangel an Selbstsorge und Rücksicht auf andere führen, aber unter bestimmten Umständen durchaus ins Gegenteil umschlagen können. Deswegen bewegt sich gerade ein aufrechtes menschliches Dasein immer auf einem schwankenden Grund. Unsere Tugenden und Laster bedürfen einer lebenslangen Wartung.

Helga König: Können Sie an einem Beispiel die Ambivalenz von Tugenden festmachen?

Prof. Dr. Martin Seel: Ein einfaches Beispiel ist die Neugier. Hier weiß man schon gar nicht genau, ob es sich eher um eine Tugend oder eher um ein Laster handelt. Im sozialen Leben kann Neugier sowohl ein Zeichen echter Anteilnahme als auch verletzender Aufdringlichkeit sein. Man denke nur an Eltern, die ihre heranwachsenden Kindern mit allzu liebevoller Neugier quälen. Im Feld der Wissenschaften und Künste kann Neugier als eine außerordentliche Produktivkraft wirken oder zu heilloser Verzettelung führen. Eine solche potentielle Unwucht kennzeichnet aber auch diejenigen Tugenden, denen ihre Zweideutigkeit nicht so offen auf die Stirn geschrieben steht.

Helga König: Was bedeutet für Sie Eitelkeit und kann man der Eitelkeit auch positive Seiten abgewinnen?

Prof. Dr. Martin Seel: Die Eitlen wollen um jeden Preis gefallen. Sie finden sich schön oder in anderen Hinsichten toll und lassen die anderen spüren, dass sehr sie sich selbst gefallen. Eben damit aber verscherzen sie sich die Zuneigung ihrer Mitmenschen. Trotzdem ist es keine Schande, anderen Menschen gefallen zu wollen, solange man dies einigermaßen für sich behält. Niemand muss völlig selbstlos selbstlos sein. Wie der französische Moralist La Rochfoucauld sagt: "Die Tugend ginge nicht so weit, wenn ihr nicht die Eitelkeit Gesellschaft leistete."

Helga König: Wann nimmt eine demütige Haltung bedenkliche Züge an?

Prof. Dr. Martin Seel: Die Demütigen wissen, wie gering ihre Kräfte letztlich sind. Sie leben in einem Bewusstsein der Weite der Welt oder des Kosmos, in der auch den Klügsten und Mächtigsten nur eine unscheinbare Rolle zukommt. Auf die Fähigkeit, das Leben aus einer höheren Warte zu sehen, aber kann man sich leicht etwas einbilden. Sobald die Demütigen sich über die Niederungen des Lebens erhaben fühlen, verwandelt sich ihre Bescheidenheit in eine Spielart des Hochmuts.

Helga König: Wann macht es keinen Sinn Redlichkeit zu üben?

Prof. Dr. Martin Seel: Dann, wenn man es mit Leuten und Instanzen zu tun hat, die selbst keine Redlichkeit kennen, oder dann, wenn man Grund hat, mit den anerkannten Regeln von Anstand und Sitte zu brechen. In solchen Lebenslagen sind Mitgefühl, Mut, Phantasie und Ausdauer in einem Ausmaß gefragt, das Regeln der Redlichkeit deutlich übersteigt.

Helga König: Ist Keuschheit tatsächlich eine Tugend?

Foto: Walter Breitinger

Prof. Dr. Martin Seel: In meinem Buch folgt das kleine Kapitel über "Keuschheit" direkt auf das über "Coolness". Darin allein liegt schon die Antwort auf Ihre Frage: Sofern und soweit sich Keuschheit als eine Form des Coolness verstehen lässt, kann sie auch in unseren Tagen als eine Tugend gelten – als eine vorübergehende oder dauerhafte Enthaltsamkeit gegenüber einem Ausleben des eigenen sexuellen Verlangens. Diese Abstinenz aber muss selbstgewählt sein und sollte nicht zu einer Verleugnung des leiblichen Begehrens führen. Das Beispiel zeigt aber auch: Nicht jede und jeder ist für diese Art der Tugend geschaffen. Ohnehin ist es so, das kein Mensch für alle der zahllosen menschlichen Tugenden und Laster geschaffen ist. Schließlich ist die Moral nicht dazu da, die Menschen gleich zu machen, sondern sie in ihrer Verschiedenheit zur Entfaltung kommen zu lassen.

Helga König: Weshalb kann Ausgeglichenheit grenzwertig werden?

Prof. Dr. Martin Seel: Weil sie zu einer Feindin der Leidenschaft werden kann. Leidenschaften zu haben und leidenschaftlich zu sein ist ein Lebenselixir, das viele Menschen nicht missen wollen, auch wenn es sie dann und wann aus der Bahn wirft. Wer sagt aber, dass alle Menschen ihre Lebensbahn begradigen sollten?

Helga König: Neid, Schadenfreude und Ressentiments sind Laster, die das Zusammenleben erschweren. Welche Tugenden kann man diesen Lastern entgegensetzen, um sie zu relativieren?

Prof. Dr. Martin Seel: Da reicht eigentlich eine einzige, nämlich Großzügigkeit. Aber ein großzügiger Mensch kann nur sein, wer viele weitere Tugenden und selbst ein paar lässliche Laster besitzt, wie z.B. Klugheit, Besonnenheit, Aufgeschlossenheit, Aufmerksamkeit, Toleranz, Nachsicht, Gelassenheit, Humor, Trägheit, Leichtsinn, Fatalismus, gelegentliche Willensschwäche und last but not least: Selbstvertrauen.

Helga König: Welche Folgetugenden entstehen aus der Tugend Selbstvertrauen?

Prof. Dr. Martin Seel: Selbstvertrauen ist eine wichtige Quelle des Weltvertrauens, das seinerseits auf vielfachen Zuspruch der sozialen Welt angewiesen ist. Man kann es nicht gewinnen, ohne dass einem Vertrauen geschenkt wurde. Man kann es nicht behalten, ohne dass einem Anerkennung gewährt wird. Eng verschwistert ist Selbstvertrauen auch mit Selbstachtung und Selbstbestimmung. Wer das Glück hat, durch eigenes und fremdes Zutun diese drei Charakterzüge zu besitzen, darf sich einen glücklichen Menschen nennen, was immer sonst in seinem Leben und Lieben schief laufen mag.

Helga König: Welchen Sinn haben die sogenannten Kardinaltugenden?


 Foto: Walter Breitinger

Prof. Dr. Martin Seel: Der Sinn der Tugenden ist es, die Sorge um sich mit der Rücksicht auf andere zu vereinbaren; der Unsinn des Lasters ist es, beides zu vernachlässigen. Weil aber die Grenzlinien zwischen dem Sinn und Unsinn der menschlichen Lebensführung oft nicht leicht auszumachen sind und weil diese Linien oft einen mäandrierenden Verlauf nehmen, gibt ein Kanon von Kardinaltugenden manchmal eine ganz hilfreiche Orientierung. Auch wenn diese Listen historisch und kulturell unterschiedlich ausfallen, sie haben alle dieselbe Funktion: ein bisschen Übersicht in der unübersichtlichen Landschaft des Lebenswandels zu schaffen. Da Tugenden und Laster aber Herdenwesen sind, die nur in großer Gesellschaft gedeihen können, bleiben ihre Leit-Tiere stets von der Unterstützung und Störung durch viele andere Mitglieder der Herde abhängig. Darum macht es auch nichts, wenn die Hitlisten von Individuen und Kollektiven teilweise unterschiedlich ausfallen. Meinen Lieblingstugenden jedenfalls sind Großzügigkeit, Gerechtigkeit und Humor, auch wenn ich nicht immer mit ihnen mithalten kann. Die schlimmsten Laster in meinem persönlichen Ranking dagegen sind Geiz, Gier und Grausamkeit, von denen ich immerhin hoffe, sie durch andere Tugenden und Laster in Schach halten zu können.

Lieber Herr Prof. Dr. Seel ich danke Ihnen für das aufschlussreiche Interview.

Ihre Helga König 


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