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Helga König im Gespräch mir Dr. Stephan Marks

Sehr geehrter Herr Dr. Marks, vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch "Scham- die tabuisierte Emotion" rezensiert. Dazu möchte ich Ihnen heute einige Fragen stellen:

Helga König: Wie definieren Sie mit knappen Worten den Begriff Scham?


 Dr. Stephan Marks
Dr. Stephan Marks: Scham ist eine schmerzhafte Emotion, die (wie ein sensibles Sinnesorgan) Verletzungen der Würde eines Menschen signalisiert: wenn unser Grundbedürfnis nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität verletzt wurde.
Weil Scham-Erfahrungen so schmerzhaft sind, bewegen sie uns Menschen dazu, für den Schutz unserer Würde (für unsere/n Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität) zu sorgen. Dies ist die Funktion der Scham, die allerdings beschädigt sein kann, wenn ein Mensch ein pathologisches oder traumatisches ‚Zuviel’ an Scham erlebt hat.

Helga König: Können Sie kurz schildern, welche Folgen traumatische Scham für einen Betroffenen hat?

Dr. Stephan Marks: Bei Menschen, die ein traumatisches ‚Zuviel’ an Scham erfahren haben, kann die Würde-behütende Funktion der Scham beschädigt sein. Dies kann etwa zur Folge haben, dass sie ihren Schutz (d.h. die Nähe und Distanz zu anderen) nicht mehr in gesunder Weise regulieren können. Zum Beispiel indem sie sich abkapseln oder Mitmenschen durch aggressives Auftreten auf Abstand halten.

Helga König: Welche Möglichkeiten gibt es, seinem Flucht-Impuls erfolgreich zu begegnen und bei Scham auslösenden Situationen nicht wegzulaufen?


Dr. Stephan Marks: Der entscheidende Schritt besteht darin, die Scham überhaupt wahrzunehmen (in der Regel ‚springen’ wir aus der Scham in andere, weniger-unerträgliche Verhaltensweisen, um der Scham nicht zu begegnen).
Sodann ist es hilfreich, die Scham Scham sein zu lassen, sie auszuhalten und zu erforschen,  was sozusagen ihre ‚Botschaft’ ist: Wodurch wurde sie ausgelöst? Wenn wir uns z.B. schämen, weil wir bloßgestellt wurden, dann ist es vermutlich an der Zeit, besser für den Schutz unserer (körperlichen oder seelischen) Grenzen zu sorgen. Oder wenn wir uns schämen, weil wir einem Mitmenschen Unrecht getan haben, dann sollten wir uns um Entschuldigung und Versöhnung bemühen.

Helga König:  Weshalb war es Ihnen wichtig, den Unterschied zwischen Scham und Schuld genau aufzuzeigen?


Dr. Stephan Marks: Viele Menschen schämen sich, obwohl sie nicht schuldig sind, z.B. viele Opfer von Grenzverletzungen (wie etwa Missbrauch oder Folter), aber häufig auch Arbeitslose sowie schwache, behinderte oder alte Menschen. Ähnlich viele Kinder von Tätern, die ihre Schuld nicht verarbeitet und unbewusst an die folgende Generation weiterdelegiert haben. Für alle diese Menschen ist es entlastend, ihnen klarzumachen, dass sie nicht schuldig sind.
Darüber hinaus ist die Unterscheidung hilfreich, weil Schuld eine Tatsache und Scham eine Emotion ist, die eng mit Narzissmus verbunden ist. Solange z.B. ein Missbrauchs-Täter wieder und wieder beteuert, dass er sich schämt, solange kreist er monologisch nur um sich selbst – seine Opfer und das Leid, das er ihnen angetan hat, sind außerhalb seines Bewusstseins. Für seine moralische Entwicklung ist es unabdingbar, dass seine Gewissens-Scham zur Reue, Schuld-Einsicht und Veränderung sublimiert. Sodann ist es notwendig, dass der Täter sich dialogisch öffnet für das Leid seiner Opfer, sie um Entschuldigung bittet und Wiedergutmachung anbietet. Erst dies ermöglicht Versöhnung und Entschuldigung. Im Unterschied dazu ist Scham ein Makel, der sich auf die ganze Person bezieht – entsprechend schwierig ist es mit der „Entschämung“.

Helga König: Können Sie kurz erklären, weshalb Beschämungen krank machen?

Dr. Stephan Marks: Weil sie ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen nach Anerkennung und Zugehörigkeit verletzen und dadurch (wie auch neurobiologische Untersuchungen zeigen) existenzielle Ängste auslösen können.

Helga König: Sie zeigen verschiedene Möglichkeiten auf, wie Schamgefühle abgewehrt werden, Negativismus ist eine davon. Können Sie zu diesem Verhalten kurz etwas sagen?

Dr. Stephan Marks:  Wer seinen Mitmenschen mit einer offenen Haltung (etwa mit Empathie, Liebe oder Hoffnung) begegnet, der macht sich sehr verletzbar. Er oder sie ist in Gefahr, z.B. als „Gutmensch“ oder „weltfremder Idealist“ verächtlich gemacht zu werden. Um dies zu vermeiden, verschanzen sich viele Menschen hinter negativistischen oder zynischen Äußerungen („das bringt ja alles nichts“). Damit versucht man sich vor Beschämungen zu schützen. Allerdings hat dies zur Folge, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen einfrieren.

Helga König: Wie erkennt man, dass ein Mensch aus der ihn beschämenden Gegenwart in Größenphantasien flieht? Können Sie ein Beispiel nennen?

Dr. Stephan Marks: Ein Beispiel dafür sind Kinder oder Jugendliche, die aus ihren Minderwertigkeitsgefühlen in virtuelle Computerspiele fliehen, in denen sie als starke, bewundernswerte Helden auftreten. Ein weiteres Beispiel ist der Nationalsozialismus, der die verbreiteten Schamgefühle in der deutschen Bevölkerung zu instrumentalisieren vermochte: Durch größenphantastische Phantasien von Weltherrschaft, Herrenmenschentum und „größtem Führer aller Zeiten“.
Größenphantasien sind oft daran zu erkennen, dass sie in absurdem Gegensatz zur Realität stehen, was von Betroffenen selbst jedoch nicht wahrgenommen werden kann.

Helga König: Sie verdeutlichen, dass Mobbing-Strategien im Grunde Beschämungsstrategien sind und schreiben weiter, dass Schamgefühle – solange sie nicht bewusst sind – ein Potential darstellen, das leicht zu instrumentalisieren ist, nach dem Prinzip „Beschäme und herrsche“. Können Sie dazu kurz Näheres erläutern?


Dr. Stephan Marks: Wie vorhin erwähnt, werden Schamgefühle von den Betroffenen oft nicht wahrgenommen; diese Emotion ist ja weitgehend tabuisiert. Stattdessen springen wir häufig in andere, weniger unerträgliche Verhaltensweisen. Etwa indem das, wofür man sich schämt, auf andere projiziert wird („Schwächling“, „Versager“). Oder indem andere gezwungen werden, sich zu schämen, etwa indem sie beschämt, bloßgestellt, ausgegrenzt oder gezwungen werden, gegen ihr eigenes Gewissen zu handeln.
Diese Mechanismen sind für den Beschämenden psychologisch entlastend, weil er dadurch seine Schamgefühle (zumindest vorübergehend) „los“ wird: „Schamlosigkeit“. Zugleich gewinnt er Macht über andere, die mit Scham erfüllt werden und sich folglich minderwertig, klein und unwert fühlen.
Dies sind klassische Macht- und Herrschaftsinstrumente, die über Jahrhunderte öffentlich praktiziert wurden (z.B. durch öffentliche Beschämungen auf dem Pranger, Folter und Landesverweise); massiv auch in Konzentrationslagern und, in abgeschwächten, subtileren Formen, bis heute im Mobbing.

Lieber  Herr Dr. Stephan Marks, ich danke Ihnen für das   aufschlussreiche Interview.
Ihre Helga König
Kostenfreies Foto aus dem Bestand  von Dr. Stephan Marks- Fotograf nicht bekannt.
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