Helga König: Sie schreiben, dass jede Gesellschaft den Körper schafft, den sie zum Funktionieren benötigt. Im Hier und Heute benötigt die Gesellschaft offenbar vitale, junge, makellose, schlanke, gesunde, bewegliche, leistungsfähige, jederzeit einsatzbereite, belastbare, zivilisierte und disziplinierte Körper. Sind dicke Menschen, die aufgrund von falschem Ernährungsverhalten stark übergewichtig sind, Leistungsverweigerer und letztlich Parasiten unseres von der Solidargemeinschaft getragenen Gesundheitssystems?
Dr. Helene Karmasin:
Es ist noch ein bisschen komplizierter: Die Gesellschaft schafft sich eigentlich die Psyche von Menschen, die sie braucht. Dies tut jede Gesellschaft und sie bewerkstelligt das sehr häufig über das „zurichten“ von Körpern, also über Vorschriften und Fantasien rund um den Körper, um das, was sie als einen perfekten Körper definiert.
Unser Idealbild des jungen, vitalen, makellosen, chronisch gesunden Körpers setzt eben eine Person voraus, die an diesem Körper arbeitet, die diszipliniert und selbstverantwortlich ist, die immer leistungsbereit ist – bis auf wenige Ausnahmen kann sie ihn eben sonst nicht haben. Solche Menschen braucht unsere Gesellschaft.
Stark übergewichtige Menschen werden daher tatsächlich oft stigmatisiert, man geht davon aus, dass sie selbst an ihren Körpern schuld sind – sie spielen daher in gewisser Hinsicht die Rolle von Sündern und Verbrechern, die die Geltung einer Norm klar machen.
Auch der Staat greift hier unter Hinweis auf die fragilen Gesundheitssysteme mit Disziplinarmacht ein.
Helga König: Sie schreiben, dass jede Gesellschaft den Körper schafft, den sie zum Funktionieren benötigt. Benötigt die Gesellschaft auch die über 50 % Übergewichtigen, damit die Wirtschaft floriert und die Leistungsstarken sich wohl fühlen können?
Dr. Helene Karmasin: Es klingt vielleicht etwas zynisch, aber vermutlich „brauchen“ wir eben auch Menschen, die durch ihre Abweichung die geltenden Normen klar machen.
Helga König: Meinen Sie, dass eine fatalistische Denkweise die primäre Ursache für Dicksein ist?
Dr. Helene Karmasin:
Übergewicht hat naturgemäß viele Ursachen, aber eine fatalistische Denkweise begünstigt es zweifelsohne. Wenn ich davon ausgehe, dass „die Gene“ oder ein angeborener Stoffwechseldefekt dafür verantwortlich sind, kann ich als Person eigentlich nichts machen, ich muss es hinnehmen, wie es kommt.
Helga König: Meinen Sie, dass auf Dauer das dualistische Körpermodell ausgedient hat und man generell dem ganzheitlichen Vorrang gibt?
Dr. Helene Karmasin: Trotz aller Versicherungen, dass das dualistische Körperbild ausgedient hat und trotz der Verführung des ganzheitlichen Körperbildes, besteht es weiterhin. Wir sind geübt in diesem Denken und wir haben den kulturellen Rahmen, dem das ganzheitliche Körpermodell entstammt, gar nicht internalisiert. Das dualistische entspricht auch weit mehr unseren tradierten Vorstellungen von dem, was eine Person ausmacht.
Helga König: Haben individuell geprägte Menschen langfristig die größte Chance gesund und leistungsfähig zu bleiben?
Dr. Helene Karmasin: Unsere Untersuchungen zu den kulturellen Stilen zeigen, dass Personen, die dem individualistischen Kulturmodell nahe stehen, gute Chancen haben, gesund und leistungsfähig zu bleiben, sie sind eben geübt, Selbstverantwortung zu übernehmen und in diesem Kulturmodell nützt Ihnen ein perfekter Körper auch am meisten.
Helga König: Benötigt die Pharmaindustrie die Fatalisten und Hierarchiegläubigen um dauerhaft Kasse zu machen?
Dr. Helene Karmasin: Hierarchisten und Fatalisten sind sicher wichtig für die Pharmaindustrie, aber auch Individualisten, für die der Mythos von der Verbesserung aller Zustände durch Technik und Wissenschaft zentral ist, nur die Egalitären sind skeptisch.
Helga König: Ist in einer Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau gelegt wird, der androgyne Körper das vorrangige Denkmodell?
Dr. Helene Karmasin:
Der androgyne Körper ist sicher eine sehr moderne Vorstellung, bzw. es besteht insgesamt eine Tendenz weibliche und männliche Körper nicht mehr stark zu differenzieren, die Körperideale gleichen sich an, wobei nicht zu vergessen ist, dass es der androgyne, also jünglingshafte Körper ist, der das Ideal ist, ebenso trainierten sich Frauen Muskeln an, also eigentlich Zeichen des männlichen Körpers – doch also eine Akzentuierung des männlichen Körperideal
Liebe Frau Dr. Karmasin, herzlichen Dank für das aufschlussreiche Interview.
Ihre Helga König
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