Dieses Blog durchsuchen

Helga König im Gespräch mit Tina Soliman

Sehr geehrte Frau Soliman, vor einigen Tagen habe ich Ihr Buch "Funkstille" rezensiert. Hierzu möchte ich Ihnen heute einige Fragen stellen.

Helga König: Was hat Sie veranlasst, sich des Phänomens des Kontaktabbruchs anzunehmen und sich in die entsprechende Fachliteratur zu vertiefen?

Tina Soliman
Tina Soliman: Dass es keine Fachliteratur zu diesem Phänomen gibt! Ich beschäftige mich in meinen Filmen meistens mit existentiellen Konflikten im Leben und wie die Menschen diese durchstehen: heftige Schicksalsschläge, Suizid oder auch Krieg. Darüber gibt es allerdings ausreichend Fachliteratur. Selten habe ich jedoch eine solche Fassungslosigkeit erlebt wie bei Menschen, die plötzlich und ohne Erklärung von jemandem verlassen wurden, der ihnen nahe stand. Die Funkstille kann das gesamte Weltbild eines Menschen umkrempeln, auch zerstören und ich wollte wissen, warum das so ist. Ich habe 2007 eine Fernseh-Dokumentation für den NDR realisiert dabei gemerkt, dass das Phänomen wenig erforscht ist. Die Reaktionen der Zuschauer waren so überwältigend, dass die Überlegung reifte, ein Buch zu schreiben. Anonymisiert waren die Betroffenen eher bereit ihre Geschichte zu erzählen. Ein nicht fiktionales Buch über das Thema zu schreiben ist erst einmal ungewöhnlich, denn es ist eigentlich durch Wortlosigkeit geprägt. Wer sich aber mit der Funkstille beschäftigt hat, weiß, dass sich unendlich viele Botschaften in dem Schweigen verstecken können. Und diese wollten wir entschlüsseln.


Helga König
Helga König: Nach welchen Kriterien haben Sie die Personen, die für ein solches Verhalten exemplarisch sind, ausgesucht und wie haben sie diese Personen gefunden?

Tina Soliman: Erst einmal habe ich mir alle „Funkstille-Geschichten“ angehört, die im nahen Umfeld passiert sind, und fast jeder kennt solch eine Situation. Für das Buch war es mir aber wichtig, so oft wie möglich beide Seiten zu hören, die des Abbrechers und die des Verlassenen. Denn es ist schon interessant, wenn sich beide Betroffenen als Opfer empfinden, wenn jeder seine Sicht auf die Wirklichkeit als die einzig wahre empfindet und man auch selbst erkennt, dass es einfach eine objektive Betrachtung einer und derselben Geschichte nicht geben kann.


Helga König: Kontaktabbruch war bislang in meinen Augen eine Maßnahme des Akteurs, um andere ins Unrecht zu setzen. Seit dem Lesen Ihres Buches ist mir klar geworden, dass die Motive vielschichtiger sind. Sie schrieben von der Scham des Abbrechers. Können Sie hierzu an dieser Stelle etwas erläuternd sagen?

Tina Soliman: Die Funkstille ist ja ein Verschwinden. Der Abbrecher will für den Anderen nicht mehr sichtbar – greifbar - sein. Wenn es um Scham geht, könnte man auch sagen: er will im Boden versinken, will das, was er selbst an sich nicht erträgt, für den Anderen nicht erkennbar werden lassen. Eine Demütigung kann offenbar so sehr beschämen, dass man sich wünscht, nicht mehr zu existieren oder sie zurückgeben zu können. Die Funkstille ist der Versuch des Sich-in-Luft-Auflösens. Wenn ich nicht da bin, kann man nicht sehen, was mich beschämt. Also entziehe ich mich, vermeide jede Begegnung, breche den Kontakt ab. Die Scham ist ein unterschätztes Gefühl. Sie kann sogar tödlich sein, weil eben einer vernichtet wird oder sich so fühlt - eine tödliche Verletzung des Selbstbildes. Würde einer die Punkte ansprechen, um die es wirklich geht, würde es die Scham zementieren. Andererseits: In dem Moment, in dem man etwas in Sprache fassen kann, benennen kann, ist es schon nicht mehr so bedrohlich, schon ein wenig gebannt. Aber wenn Sprache hilft, warum spricht der Abrecher nicht? Auch das versuche ich gemeinsam mit den Abbrechern und Experten in meinem Buch herauszufinden. Scham ist also ein Grund für die Funkstille. Es gibt jedoch auch viele andere starke Gefühle, z.B. Angst und Wut, die so überwältigend sind, dass sie den Einzelnen nicht mehr handlungsfähig sein lassen. Und: die Biographie der unmittelbar Betroffenen, aber auch ihrer Eltern und Großeltern spielt eine Rolle - die „Funkstille“ kann vererbt werden.


Helga König:  Macht Kontaktabbruch die Beteiligten krank? Was sagen die Wissenschaftler diesbezüglich?

Tina Soliman: Kränkungen machen krank und die Funkstille ist eine tiefe Kränkung, aber oft auch Folge von Kränkung. Einer der befragten Psychoanalytiker bemerkte, dass im Englischen Kränkung ja Mortification heißen würde und dass dies seiner Meinung nach treffend sei, weil die Funkstille einen anderen Menschen durch die Nichtbeachtung vernichten wolle. Immer ist aber auch im Hintergrund zu berücksichtigen, dass der Verlassene zuvor vielleicht durch zu starke Dominanz versucht hat, den Abbrecher zu unterdrücken. Mortification heißt aber auch Demütigung und das ist sicher etwas, was der Abbrecher sicherlich erreichen will, wenn auch aus Not. Der Abbrecher ist überfordert, bricht also den Kontakt ab. Ihm ist es nicht möglich, dem Konflikt anders zu begegnen. Ich sage ausdrücklich nicht „lösen“, denn die Funkstille ist ein denkbar schlechtes Mittel, einen Konflikt zu bewältigen, sie kann aber aus der Distanz wirken. Übrigens weiß der Abbrecher nicht immer, welches Feld der Verwüstung er hinterlässt, manchmal aber will er das sogar. Oft geht es dann um Abhängigkeiten, die der eine provoziert und aus der der andere sich zu lösen versucht, gleichzeitig provoziert der Verlassene eventuell unbewusst, verlassen zu werden, weil er nicht den Mut hat, diesen Schritt zu tun. Fest steht offenbar: Beide Seiten leiden in der Funkstille – und beide kann das Schweigen krank machen.


Helga König: Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass die Verlassenen stärker an Schuldgefühlen leiden als die Abbrecher?

Tina Soliman
Tina Soliman: Zumindest grübeln sie mehr. Ob die tatsächliche Einsicht da ist, dass jeder seinen Teil zu einer Beziehungsstörung beiträgt, ist unterschiedlich ausgeprägt. Die Protagonisten in dem Buch leiden unsisono an Schuldgefühlen, doch bei den Abbrechern mischt sich noch eine gehörige Portion Wut hinein. Bei der nie endenden Frage nach dem „Warum“ zermartern sich die Verlassenen natürlich immer wieder den Kopf darüber, welche Schuld sie an dem Konflikt tragen, was sie falsch gemacht haben. Dieser Gedanke an „den Fehler“ dreht sich in ihrem Kopf wie in einer Endlosspirale. Der Abbrecher scheint eher die Fähigkeit zu haben zu verdrängen, abschneiden zu können, neu anzufangen. „Aber man kann die Baustellen der Vergangenheit nicht schließen, indem man sie umfährt“, sagte mir ein Psychologe. Das Leben ist keine Glühbirne, die man einfach aus der Fassung schrauben und wieder irgendwo neu einsetzen kann. Psychiater und Psychologen warnen davor, mit Konflikten so umzugehen, denn sie könnten Persönlichkeitsstörungen hervorrufen oder sie verstärken. Auch gäbe es keine Entwicklung, wenn man weglaufe, sobald es kompliziert werde. Verhaltensmuster wiederholen sich, wenn man sie nicht anschaut – und zu verstehen versucht. Auch die Verlassenen stecken in ihren Schuldgefühlen fest, weil es keine beidseitige Auseinandersetzung gibt. „Wie soll ich etwas ändern, wenn ich nicht weiß, was ich falsch gemacht habe“, fragten mich immer wieder die Verlassenen.


Helga König
Helga König: Haben Abbrecher ein generelles Kommunikationsproblem?

Tina Soliman: Schweigen ist auch eine Form der Kommunikation! Die Wortlosigkeit kann sogar deutlicher sein als alle zuvor gesprochenen Worte. Es ist ein Handeln, und wenn man sich mit Worten nicht verstanden fühlt, dann muss man Taten sprechen lassen. Häufig wurde ja vorher mit Worten kommuniziert, nur hat das der andere ignoriert, überhört oder eben nicht wahrgenommen. “Mein Schweigen war der letzte Versuch, mich verständlich zu machen“, sagt eine Betroffene. Es geht also darum, gehört zu werden, indem man nichts von sich hören lässt. Auch das ist also Kommunikation!  Gleichzeitig ist die Funkstille ein deutliches Zeichen eines Kommunikationsproblems: Worte könnten Klarheit schaffen und Missverständnisse verhindern. Bei einigen Abbrechern fällt auf, dass sie nicht offen über das was in ihrem Innersten vor sich geht sprechen können, sei es aus Angst vor Zurückweisung, sei es aus der Furcht heraus, etwas zu versprechen, was sie nicht halten können oder sei es, weil sie es nicht anders gelernt haben, weil in der Familie das Schweigen als Konfliktlösungsmittel gängig war oder als Bestrafung benutzt wurde - um nur einige Gründe zu nennen, die die Fähigkeit zum offenen Austausch unterbinden kann. Denn und das macht es so kompliziert - manchmal weiß man ja gar nicht, was in einem vorgeht. Wie soll man das dann mit Worten beschreiben?


Helga König: Neigen Machtmenschen und sehr eitle Menschen eher zum Kontaktabbruch?

Tina Soliman: Am ehesten würde ich sagen: Extrem empfindliche Menschen neigen zum Kontaktabbruch. Wenn die moralisch-seelische Widerstandsfähigkeit eines Menschen nicht stark genug ist, kommt es sicherlich eher zu solchen Störungen im Zusammenleben mit anderen Menschen. Die Rauheit verdeckt die verletztliche Seele. Der Verlassene hat eventuell den wunden Punkt berührt, das Feinstoffliche, wenn man so will.  Allerdings konnte ich im Gespräch mit den Experten feststellen, dass eher narzisstische oder schizoide Menschen zum Abbruch neigen, Menschen, die Angst vor Nähe haben, die das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz nicht ausloten können, die sich überschätzen und permanent Lob und Zuspruch brauchen und bei dem geringsten Widerstand oder bei Kritik einknicken. Mangelndes Selbstbewusstsein spielt eine Rolle, auch wenn das gut versteckt wird und gleichzeitig auch Größenwahn. Ein Abbrecher und Einzelgänger sagte mir, dass er sich nicht sagen lassen muss, was er zu denken hat, schließlich habe er acht Jahre Psychoanalyse hinter sich und wisse, wie die Welt sich drehe. Die Funkstille kann auch ein hochmütiges Sich-Abwenden sein. Aber vielleicht ist dieser Hang zum plötzlichen Abbruch auch ein Zeichen der Zeit. Es wird zwar ständig gesimst, gemailt und telefoniert, aber nichts gesagt. Und wenn etwas zu kompliziert oder anstrengend wird, dann lässt man es eben.


Helga König: Bedarf es eines Vermittlers, um einen Kontakt wiederherzustellen?


Tina Soliman
 Tina Soliman: Freunde oder Verwandte als Vermittler einzuschalten ist ein großer Fehler. Es funktioniert nicht. Der Abbrecher fühlt sich bedrängt und zieht sich noch stärker zurück. Denn er empfindet die Einmischung als Eindringen in seinen intimen, privaten Bereich – als eine Grenzüberschreitung, die er nicht erträgt. Das Schweigen ist ein Impuls, eine Art Überlebensinstinkt. Der Abbrecher folgt eventuell gar keiner bewussten Überlegung. Und doch ist sein Stillhalten eine Rebellion. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Der Verlassene zieht selbst einen Schlussstrich und beendet damit den Schwebezustand - oder er wartet, bis der Abbrecher wieder den Kontakt aufnimmt. Wenn beide mit der Situation nicht fertig werden, sollten sie sich fachliche Hilfe suchen. Allerdings gibt keine ausgebildeten „Funkstille-Experten“. Aber es gibt Fachleute, die sich um seelische Verletzungen und Störungen kümmern: Verhaltenstherapeuten, Psychologen, Psychiater, Psychoanalytiker. Letztendlich muss jeder für sich selbst herausfinden, welcher dieser Fachleute den Kern des Problems am besten erkennt und zeigt, wie man mit dieser tiefgehenden Erfahrung umzugehen lernt. Eine weitere Möglichkeit wäre eventuell: Nach dem Bruch gibt es, wenn die Zeit des Schweigens vorbei ist, eine Neusortierung der Beziehung und damit eine andere Bindung. Einige der Protagonisten in meinem Buch haben das geschafft – ohne Vermittler.


Helga König: Mir ist ein Fall bekannt, bei dem zwei Brüder seit bereits 50 Jahre nicht mehr miteinander sprechen. Der jüngere der beiden hat den Kontakt abgebrochen. Der gesamten Familie ist unklar weshalb. Als die Schwester der beiden vor einigen Wochen dem jüngeren Bruder kurz mitteilte, dass der ältere Bruder schwer erkrankt sei, brach der jüngere Bruder wegen dieser kurzen Information auch den Kontakt zur Schwester ab, die im Grunde nicht wusste, was ihr geschah. Sind Abbrecher verbohrte, halsstarrige, unverzeihliche Menschen?

Tina Soliman: Natürlich ist die sture Verneinung des jüngeren Bruders unreif und zeugt von Schwäche. Ein seelisch gesunder Mensch würde den Widerstand flexibel und durchlässig halten. Das kann er aber nicht – und vielleicht will er es auch nicht. Doch seine Sturheit bringt ihn natürlich nicht weiter. Die Funkstille ist fast immer auch Folge einer Überforderung. Der Jüngere kann schon die erste Lücke – den Bruch zum Bruder - nicht mehr schließen, also lässt er den Kontakt zur Familie komplett abreißen. Das Abschneiden der Beziehung schützt ihn auch vor weiteren Verletzungen und Enttäuschungen. Die gekränkte Seele versucht, ihr Leid durch die Kränkung des Anderen zu lindern, was wiederum neues Leid verursacht. Die Funkstille scheint auch eine Art Kapitulation zu sein, vor dem Anderen und ein wenig auch vor sich selbst. Der Abbrecher sieht sich meist zu seiner Handlung gezwungen, er findet keinen anderen Ausweg. Das Schweigen impliziert auch die Unmöglichkeit zu sprechen. Und, was nicht ganz unerheblich ist: Mit dem Schweigen gelingt es dem Abbrecher, den Verlassenen in Atem zu halten! Wichtig ist, darüber nachzudenken, wie die Beziehung, die Rollenverteilung vor dem Abbruch war und sich zu fragen, wieso hat der Verlassene nicht gemerkt, was sich anbahnte? Denn die Funkstille passiert nicht aus heiterem Himmel. Wie es scheint, fehlte zuvor das Gefühl dafür, was konkret verletzt oder wie sehr etwas bedrängt. Lebensbestimmende Erfahrungen können von sehr leiser Art sein. Der Abbrecher - wie auch der Verlassene – kann in der Funkstille sich nicht weiter entwickeln. Es gibt keinen Prozess - wie ein Wiederaufnahmeverfahren, das eine abgeschlossene Sicht der Dinge auf unbegrenzte Zeit vertagt. Deshalb reagiert der jüngere Bruder wie 50 Jahre zuvor. Er hat nichts dazu gelernt.


Helga König: Sollte man um Abbrecher einen großen Bogen machen, damit man nicht selbst in irgendwann in die Lage versetzt wird, sich mit der verletzenden "Funkstille" auseinandersetzen zu müssen?

Tina Soliman: Oft sind die Abbrecher hoch sensible und besondere Menschen, und wer sagt, dass ihre Sichtweise komplett falsch ist? Würde man sich nicht mit ihnen auseinandersetzen, könnten sie auch nicht lernen, mit Konflikten - und mit Menschen – anders, behutsamer, so wie sie es eigentlich selber einfordern, umzugehen. Krisen sind fast immer Konfliktkrisen: der Abbrecher müsste lernen, mit seinen Abhängigkeiten von anderen Menschen umzugehen, wenn er dem Leben zugewandt sein will. Wenn er aber den nahen Kontakt nicht riskiert, wird er ein isoliertes Einzelwesen ohne Bindung, ohne Zugehörigkeit bleiben, letztlich ohne Geborgenheit, und er wird weder sich selbst noch die Welt kennenlernen. Die Funkstille ist auch eine Krise der Selbst-Täuschung. Es wäre nicht gut, wenn Menschen, die zur Funkstille neigen, ohne die andere Seite im Leben zurecht kommen müssten und auch der Verlassene kann etwas lernen: Der Schmerz ist der Stachel, der zeigt, wo es weh tut.

Liebe Frau Soliman, ich danke Ihnen für dieses wirklich erhellende Interview.

Ihre Helga König
http://funkstille-buch.de/das_buch/leseprobe/
Bitte klicken Sie auf den Button, dann gelangen Sie zu Amazon und können das Buch bestellen.

1 Kommentar:

  1. Ich habe das Buch mit Interesse gelesen. Vorher hatte ich wenig Sympathie für Menschen, die andere durch ihr zähes Schweigen tyrannisieren. Es kam mir wie eine Art von psychischer Gewalt vor. Inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Aber nun frage ich mich, ob diese beschriebene "Funkstille" nicht auch eine Spielart von Autismus sein könnte?

    AntwortenLöschen