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Helga König im Gespräch mit Dr. Imhof zu seinem Buch "Eidesbruch: Ärzte, Geschäftemacher und die verlorene Würde des Patienten"

Lieber Dr. Imhof, vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch "Eidesbruch: Ärzte, Geschäftemacher und die verlorene Würde des Patienten" rezensiert. Heute möchte ich Ihnen hierzu einige Fragen stellen. 

Helga König: Zunächst möchte ich Sie fragen, wie es dazu kam, dass Sie nach den langen Jahren an der Chirurgischen Universitätsklinik Würzburg, wo Sie auf Tumorchirurgie spezialisiert waren, zum selbstständigen Gutachter für Behandlungsfehler wurden? 

Dr. Michael Imhof: Schon Anfang/Mitte der 90iger Jahre sah sich die Ärzteschaft mit einer zunehmenden Dominanz ökonomischer Vorgaben und administrativen Fesselungen konfrontiert, die im heutigen Gesundheitswesen einen vorläufigen Höhepunkt, aber keineswegs ihren Endpunkt erreicht haben. Diese Entwicklung reicht tief in das überkommene ärztliche Selbstverständnis eines von einem traditionellen Ethos getragenen Berufsstandes hinein, das sich zuallererst dem individuellem Wohl des Patienten und nur sekundär ökonomischen, betriebswirtschaftlichen oder staatlichen Vorgaben verpflichtet sah. Mein wissenschaftliches Interesse galt vor allem Fragestellungen im Zusammenhang mit entzündlichen und tumorösen Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes und ich sehe auf viele wissenschaftliche Veröffentlichungen auf diesem Gebiet zurück. Die zunehmenden administrativen Fesselungen, gepaart mit unzureichenden Finanzmitteln für ein nachhaltiges wissenschaftliches Arbeiten boten mir keine attraktive Lebensperspektive mehr. Anpassung war nie meine Stärke und so entschied ich mich für eine freiberufliche Tätigkeit als wissenschaftlicher Berater ohne Abhängigkeit von kassenärztlichen Vereinigungen, Berufsgenossenschaften und weiteren Institutionen. Der Weg in die Freiberuflichkeit war anfangs keineswegs leicht. Ein bekannter Anwalt suchte mich eines Tages auf und bat mich, die Behandlungsunterlagen von einem seiner Verwandten einzusehen, der nach einer Operation im Bauchraum schwere Komplikationen erlitten hatte. In meinem Gutachten kam ich zu der Bewertung, dass dieser Patient Opfer eines Behandlungsfehlers geworden war. Das anschließende Arzthaftungsverfahren endete mit einem für die Patientenseite sehr günstigen Vergleich. Dieses Verfahren markierte den Anfang meiner gutachterlichen Tätigkeit. Heute blicke ich auf Tausende von Gutachten auf dem Gebiet des Arzthaftungsrechtes zurück und sehe mich nahezu täglich mit den Brüchen, aber auch den ethischen Erosionen der modernen Medizin konfrontiert. In den oft mit überaus harten Bandagen geführten Arzthaftungsverfahren fällt mir nicht selten die Aufgabe zu, die Scherben von verloren gegangenem Vertrauen der Patienten in die Integrität der Medizin wegzuräumen. 

Helga König: Sie sprechen von sieben Todsünden der modernen Medizin. Wie definieren Sie den Begriff "Todsünde" und grenzt dieser sich vom Todsündenbegriff, den man aus der christlichen Religion kennt, ab?

Dr. Michael Imhof: Es existieren verschiedene, geschichtlich und kulturell eingefärbte Kataloge von Todsünden in der christlich-abendländischen Tradition. Dem Begriff der Todsünde ist in allen Katalogen ein schwerer Verstoß gegen göttliche Lebensprinzipien mit einem daraus resultierenden Verlust von Gnade gemeinsam. In unserer säkularisierten Gesellschaft und in der begrifflichen Umsetzung in der Medizin bedeuten Todsünden schwerwiegende Verstöße gegen fundamentale ethische Prinzipien mit einer Kompromittierung des innersten Wesenskernes dieser Medizin, der sich ja aus den zutiefst humanen Zuschreibungen von Empathie, Fürsorge und Teilnahme an Krankheit und Leiden des Anderen erschließt. Eine Medizin, der diese grundlegenden Eigenschaften, abhanden zu kommen droht, steht in Gefahr, diesen inneren Wesenskern zu zerstören. Eine auf das Wohl des Individuums ausgerichtete und teilnehmende Medizin und eine mechanistisch und ökonomisch kalkulierende Medizin schließen sich aus: Die Fundamentalbegriffe von Krankheit und Heilung lassen sich nämlich nicht allein auf Physik und Biologie abstrahieren, sie weisen vielmehr über sie hinaus. Das Mysterium des Lebens und dessen existentielle Bedrohungen entzieht sich prinzipiell unserem empirischen Erkenntnisvermögen und trotz der gewaltigen Erfolge der modernen Medizin sind es immer noch die Dimensionen von persönlicher Erfahrung, der Erfahrung von Schicksal und Leiden, welche das prägen, was wir gemeinhin als das eigentlich Menschliche verstehen. Das, was wir unter dem Begriff von „Heilung“ verstehen, findet in einem komplexen und hoch-dimensionalen Raum statt, der sich einer ausschließlich reduktionistisch agierenden Medizin niemals erschließen kann. Aus diesen Gründen sind die tradierten ethischen Grundlagen der Medizin von persönlicher Fürsorge, Wohlwollen und Empathie in besonderem Maße schutzwürdig, weil sie für den Fortbestand einer humanen Gesellschaftsordnung überlebensnotwendig sind. 

Helga König: Können Sie den sieben Todsünden in der Medizin, sieben essentiell wichtige Tugenden dort gegenüberstellen? 

Dr. Michael Imhof: Es gibt kein einheitliches Arztbild und keine verbindlichen Tugendkanons. Den genannten sieben Todsünden könnte man folgende essentielle Tugenden gegenüber stellen, wobei sich die verschiedenen Tugendbegriffe gegenseitig überschneiden können: 
a. Kommerzialisierung: Wohlwollen 
b. Geldgier: Bescheidenheit 
c. Habsucht: Redlichkeit 
d. Korruption: Ehrlichkeit
e. Ethische Dammbrüche: Mut
f. Mitleidlosigkeit: Empathie
g. Hochmut: Demut 

Helga König: Können Sie den Lesern kurz berichten, worum es Ihnen in der Darstellung der ersten Todsünde geht? 

Dr. Michael Imhof: In einem Medizinsystem, wo Wörter wie Effizienz, Wirtschaftlichkeit, Jahresbilanz einen festen Stellenwert eingenommen haben, mögen die genannten Begriffe zunächst einmal wie veraltete Fremdkörper wirken. In einem modernen Krankenhaus, das sich als Profitcenter versteht, gilt es als unökonomisch, viel Zeit mit den Patienten zu verbringen. In einem derartigen Umfeld muss es dem Arzt immer schwerer fallen, den Spagat zwischen marktbestimmten Wettbewerb und Humanität durchzuhalten. Die Dominanz ökonomischer Faktoren im Krankenhausalltag wird deshalb in zunehmendem Maße ethisch hochproblematisch: Die ökonomische Logik wird unter den Bedingungen der Fallpauschalen (DRG) zum Maß aller Dinge. Gestaltet sich beispielsweise die Behandlung eines Patienten nach einer Operation aufwändiger und langwieriger als durch die pauschale Vergütung gedeckt, so schreibt das Krankenhaus Verluste. Ziel muss es also sein, möglichst viele Behandlungen und Operationen in möglichst kurzer Zeit und unter möglichst geringem Personalaufwand zu leisten. Unter diesen Zwängen hat sich die durchschnittliche Verweildauer im Krankenhaus um jährlich 2,2 Prozent auf derzeit ca. 6 Tage verkürzt. Zwischen den Jahren 1995 und 2005 sind annähernd 50 000 Stellen im Pflegebereich eingespart worden. Auf der anderen Seite sind die Fallzahlen drastisch angestiegen. Es läßt sich ein eindeutiger Trend zu Behandlungen mit hohen Sachkosten feststellen, wie zum Beispiel Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, Wirbelsäulenerkranken, speziell Bandscheibenoperationen, Gelenk-Endoprothesen u.a.m. Die rasante Zunahme dieser Eingriffe ist durch demographische Faktoren allein nicht zu erklären. Ein Zusammenhang mit der DRG-Systematik ist nicht zu bestreiten. Erwünscht sind Patienten mit einfachen Erkrankungen, beispielsweise einem Hüftgelenksverschleiß, die sich planbaren und profitablen Eingriffen unterziehen und die das Krankenhaus nach wenigen Tagen wieder verlassen. Es wird das behandelt, was sich rechnet. Unerwünscht sind multimorbide und meist alte Patienten mit mehreren Erkrankungen und einem entsprechend erhöhten Risiko einer längeren postoperativen Liegedauer. Hier steht die Medizin in Gefahr, zur Dienerin einer Ökonomie zu verkommen, die nur noch sich selbst als Zweck sieht. Hier verkommt die Klinik zum Marktplatz. 

Helga König: Wo sehen Sie in der Medizin den wesentlichen Unterschied zwischen Geldgier und Habsucht? 

Dr. Michael Imhof: Habsucht, avaritia, bedeutet mehr als Geldgier. Habsucht ist ein ungezügeltes und rücksichtsloses Streben nach Gewinn um jeden Preis. Habgier oder Habsucht ist das übersteigerte, rücksichtslose Streben nach materiellem Besitz, unabhängig von dessen Nutzen, und eng verwandt mit dem Geiz, der übertriebenen Sparsamkeit und dem Unwillen zu teilen. Habsucht kennt nur den eigenen Vorteil. Habsucht kennt kein Wohlwollen dem Patienten gegenüber, Habsucht hat nur den eigenen kostbaren Zeitaufwand im Blick, Habsucht kennt keine Bereitschaft, eigene Annehmlichkeiten zu opfern, beispielsweise dann, wenn ein hilfesuchender Patient sich am freien Nachmittag an den Arzt wendet. Habsucht fragt nach dem eigenen Vorteil beispielsweise dann, wenn einem gutgläubigen Patienten eine IGeL-Leistung für teures Geld verkauft wird, die für dessen Gesundheit keinen Nutzen erbringt, dem Arzt aber eine zusätzliche lukrative Geldquelle erschließt. 

Helga König: Was macht Mediziner nach ihrer Ansicht korrupt? 

Dr. Michael Imhof: Korruption ist der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil. Ob Bestechung oder Bestechlichkeit im internationalen Geschäftsverkehr oder in der Medizin, oder der Versuch, durch Schmiergelder Vorteile zu erlangen - Korruption verursacht nicht nur materielle Schäden, sondern untergräbt auch die Fundamente einer Gesellschaft. In Deutschland wurde das Problem der Korruption in der Medizin lange Zeit ignoriert. Zahlreiche Skandale, auch in jüngster Zeit machen deutlich, dass der Korruptionsbekämpfung in der Medizin größere Aufmerksamkeit zukommen muss: Unser Gesundheitswesen kennzeichnet mit annähernd dreihundert Milliarden Euro einen riesigen Markt. Das Gesundheitswesen repräsentiert mit Wahrscheinlichkeit die komplexesten Bereiche unserer Gesellschaft und das Dickicht von Institutionen und Netzwerken ist entsprechend undurchschaubar deshalb nur schwer zu kontrollieren. An den Verteilerzentralen dieser ungeheuren Geldströme sitzen die Ärzte. Geld macht gierig. Die zunehmende Konkurrenzsituation von Praxen und Krankenhäusern macht erfindungsreich. Die Angst, entdeckt zu werden, ist nach wie vor gering. Die Verteilung der Patientenströme folgt den Geldströmen. Die kommerzgesteuerte Verteilung der Patientenströme, Zuweiserpauschalen und korrumptive Fangprämien markieren unheilvolle Folgen einer zunehmenden Kommerzialisierung der Medizin. Die Moral muss auf der Strecke bleiben. 

Helga König: Können Sie den Lesern im Rahmen der ethischen Dammbrüche kurz etwas zu den Punkt en "überflüssige Operationen" und "vertuschte Behandlungsfehler" mitteilen? 

Dr. Michael Imhof: In Deutschland werden jährlich ca. 200 000 künstliche Hüftgelenke eingesetzt. Im übrigen Europa sind es dagegen nur ca. 300 000. In Deutschland werden ca. 136 000 Eingriffe aufgrund von Kniegelenkverschleiß durchgeführt, in Frankreich sind es dagegen nur ca. 32 000, in England gar nur 13 000. Deutsche Krankenhäuser mutieren zu Operationsfabriken. Nach Einschätzungen von Experten, beispielsweise von Herrn Prof. Dr. Pässler, ist die Hälfte der Kniegelenksarthroskopien überflüssig. Ähnliche Feststellungen gelten für Hunderttausende von Bandscheibeneingriffe. Viele dieser Eingriffe bessern das Leiden der Patienten nicht, sie bergen oft zusätzliche Risiken für perioperative Komplikationen, deren Kosten später von der Solidargemeinschaft aufgebracht werden müssen. Überflüssige Operationen sind mit einem uralten hippokratischen ethischen Grundprinzip nicht vereinbar, das lautet: „Primum utilis esse, „Primum nil nocere “. Das heißt übersetzt: Nütze dem Patienten und schade ihm nicht. Ähnliche Überlegungen gelten besonders auch für den ärztlichen Umgang mit Behandlungsfehlern. Hier erfährt das ärztliche Ethos überhaupt seine Nagelprobe. Behandlungsfehler stellen nach wie vor ein virulentes Problem in unserer Medizin dar. Oft führen sie zu verlängerten Krankenhausaufenthalten, sie erhöhen die Folgekosten durch manchmal lebenslang erforderliche Nachbehandlungen , nicht selten bedeuten sie für die betroffenen Patienten den Verlust der Arbeitsfähigkeit und den Sturz ins Bodenlose mit langwierigen sozialen und psychischen Stigmatisierungen. Immer noch werden betroffene Patienten, die Opfer von Behandlungsfehlern geworden sind und deren Angehörigen in ihrer Not alleine gelassen. Wenn Sie es wagen, bei ihrem Arzt die Frage nach einem Fehler anzusprechen, werden sie oft schroff abgewiesen und angegriffen. Nicht wenige von ihnen erfahren nicht einmal, dass sie Opfer eines Fehlers geworden sind und viele von ihnen finden aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation nicht mehr die Kraft, langwierige Zivilprozesse durchzustehen. Wer sich dennoch dazu entschließt, ein Behandlungsfehlerverfahren einzuleiten, sieht sich oft mit einem langjährigen, manchmal sogar jahrzehntelangen Abnutzungskampf gegen die Versicherungen der Ärzte konfrontiert. Vertuschte Behandlungsfehler untergraben die grundlegende Basis der Medizin, nämlich das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient und erodieren das ärztliche Ethos immer weiter, das vom Arzt Ehrlichkeit und Redlichkeit dem Patienten gegenüber einfordert. 

Helga König: Wie erklären Sie sich den Mangel an Mitgefühl von Ärzten, der zum würdelosen Sterben durch gnadenlose Therapien verurteilt? 

Dr. Michael Imhof: In einer zunehmend unter ökonomischen Zwängen leidenden Medizin bleibt naturgemäß für Empathie und tief empfundene Fürsorge immer weniger Raum. Zeit wird zu einer raren Ressource. Die Marktgesetze kennen keine Begriffe von persönlicher Zuwendung und Anteilnahme am Schicksal eines Patienten. Die Marktgesetze wollen nur eine Beziehung zwischen Geschäftspartnern zum Austausch der Ware Gesundheit gegen möglichst großen Profit anerkennen. Der Patient als Marktteilnehmer. Es besteht die Gefahr, dass der hinter der Krankheit stehende Mensch selbst zur Ware werden könnte. Hier verliert die Medizin ihre Seele. Hier verliert aber auch unsere Gesellschaft als Ganzes ihre Seele. Das oft würdelose Sterben in den Krankenhäusern, die organisierte Entwürdigung der Alten in den Pflegeheimen, die nach Marktgesetzen wertlos geworden sind, markieren Etappen auf dem Weg in eine fortschreitende Enthumanisierung. Unsere Zeit scheint dem Wahnsinn verfallen zu sein, dass sie eine grundlegende Bedingung unseres Menschseins nicht mehr zu erkennen vermag: Würdigkeit erwächst aus Bedürftigkeit. 

Helga König: Können Sie sich kurz auch zur 7. Todsünde äußern und wo deren Ursachen zu finden sind?

Dr. Michael Imhof: Was gleichermaßt berauscht und beängstigt, ist die ungeheure Dynamik der in allernächster Zukunft absehbaren biophysikalischen und biomedizinischen Zugriffsmöglichkeiten auf nahezu alle Ebenen der menschlichen Existenz, angefangen von den Eingriffsmöglichkeiten auf der Ebene der Gene in Gestalt eines Gen-Engeneerings, von der Ebene der embryonalen Stammzellen bis zu den Möglichkeiten eines Brain- Enhancements, dh. der möglichen Optimierung des menschlichen Gehirns und seiner mentalen Fähigkeiten. Im Zentrum der Forschungen steht die Zentralmetapher der Information des Lebens. Der Besitz und zunehmende Verfügungsgewalt über diese Informationen wird, so wage ich zu prognostizieren, zum werthaltigsten Rohstoff des 21. Jahrhunderts werden, weit vor den klassischen Rohstoffen wie Erdöl, Gold oder seltenen Edelmetallen. Dieser Rohstoff befeuert die Phantasien von Forschern und Aktionären gleichermaßen. Was sich heute schon abzeichnet, ist die Vision einer nahezu unbegrenzten Verfügbarkeit der Lebensbausteine. Das Leben könnte so zum Rohstoff einer universalen Nutzbarmachung und Verzweckung werden, an dessen Ende der von Nietzsche vorhergesagte Neue Mensch stehen könnte, der dem Wahn verfallen ist, sich aus den Fesselungen der natürlichen genetischen Lotterie zu lösen, das heißt aus den Fesseln eines natürlichen Schicksals, aus den Fesseln von Alter, Krankheit, ja aus den Fesseln der Sterblichkeit. Enhancement, Entgrenzung und Optimierung der menschlichen Materie, so lauten die Schlachtrufe auf dem Weg zum Neuen Menschen. Weil es dann alle Krankheiten überwunden sein werden, so müsse nur noch die Gesundheit dauerhaft optimiert werden. Derartige Visionen von einer schönen neuen Welt, wo nur überaus leistungsfähige und lebenslang gesunde Menschen existieren, wurde u.a. schon in den 30iger Jahren des letzten Jahrhunderts von Aldous Huxley in seinem Buch „Schöne neue Welt“ entworfen. Diese Visionen kommen heute auf beängstigende Weise immer näher: Der Mensch wird von Vertretern einer Anti-Aging-Medizin als ein Defektwesen von Natur aus verstanden, das unablässig zu verbessern ist. Hier erfährt der Gesundheitswahn seine terminale Vergötzung. Welche Folgerungen sich aus diesen Visionen im Hinblick auf unser überkommenes abendländisch-humanistisches Menschenbild ableiten werden, ist derzeit noch nicht in Ansätzen absehbar. 

Helga König: Was vermuten Sie, könnte zu einem Umdenken und einer erneuten ethischen Grundhaltung in der Medizin führen, wo muss angesetzt werden? 

Dr. Michael Imhof: Im Rausch des Machbaren, der Selbstbereicherung und der Jagd nach dem Shareholder Value steht die moderne Medizin in Gefahr, ihren Bezug zu ihren Ursprüngen und Wurzeln von Empathie und Fürsorge für die Kranken und Schwachen zu verlieren. Wir stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts am Beginn eines Zeitalters der Information. Dieses Zeitalter muss zum Zeitalter der Information für den Patienten werden, der sich als Mensch, als Person mit seiner Würde in einer technisch hochgerüsteten Medizin wiederfinden will. Es liegt in unserer Hand, ob sich diese Medizin zu einem kommerzgesteuerten Moloch oder zu einem partnerschaftlichen und menschenfreundlichen Gegenüber für die hilfesuchenden Patienten entwickeln wird. Die Ärzte des 21. Jahrhunderts müssen wieder lernen zu verstehen, was aus der Krankheit zu ihnen spricht und welche Sprache die Menschen zu ihnen sprechen. Medizin basiert auf einem subtilen und schutzbedürftigen Beziehungsgefüge zwischen Arzt und Patient. Es ist Zeit, uns wieder auf eine Medizin zu besinnen, in deren Mittelpunkt der aufgeklärte Patient steht. Diese Neubesinnung wird die dritte Revolution der Medizin einläuten. Aufklärung über die Krankheit, Autonomie und gemeinsame Entscheidungsfindung müssen die Qualitätsmerkmale dieser Medizin repräsentieren. In dieser Medizin werden Patienten wieder darauf vertrauen können, dass es gerecht zugeht und dass ihnen aus purer Gewinnsucht heraus keine unnötigen Untersuchungen und Behandlungen angedreht werden, dass ihr Arzt wahrhaftig zu ihnen ist, besonders dann, wenn ihm einmal ein Fehler unterlaufen sein sollte.

Lieber Herr Dr. Imhof, ich danke Ihnen herzlich für  das aufschlussreiche Interview.

Ihre 
Helga König

http://www.dr-imhof.de/

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