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Helga König im Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann

Sehr geehrter Prof. Dr. Hantel-Quitmann,  dieser Tage habe ich  Ihr Buch „Sehnsucht- Das unstillbare  Gefühl“ rezensiert. Dazu möchte ich Ihnen heute einige Fragen stellen.

Helga König: Wieso wird die Sehnsucht beim Tango besonders deutlich für einen Betrachter visualisiert?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann: Anders als bei anderen Tänzen geht es beim Tango weniger um die Harmonie der Bewegungen zweier Tänzer, als um die spannungsgeladenen Momente des Innehaltens, in denen insbesondere die Sehnsucht des Mannes nach dem Weib greifbar und fühlbar erscheint, bei den Tänzern wie bei den Betrachtern.

Helga König: Ist Sehnsucht der eigentliche Motor dafür, ein gutes Liebesgedicht zu verfassen?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel- Quitmann: Ja. Liebesgedichte sind meist Ausdruck einer Sehnsucht sowohl in den süßen Anteilen des Sehnens (Dantes Göttliche Komödie, ....welch süsses Sehnen), als auch in den bitteren Zeilen, in denen die Unmöglichkeit des Verlangens zum Ausdruck gebracht wird (Goethes Torquato Tasso).

Helga König: Was ist Sehnsucht nach Ihrer Auffassung?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel- Quitmann: Sehnsüchte sind wie alle Träume symbolische Wunscherfüllungen. Sie kreisen um intensive Wunschträume und Lebensträume, die als Alternativen zum bestehenden Leben erstrebenswert erscheinen. Als Gefühl ist die Sehnsucht bitter-süß; süß als Traum und bitter, weil dieser Traum zugleich unerfüllbar erscheint. Anders als die nächtlichen Träume sind Sehnsüchte viel näher am täglichen realen Leben. Sehnsüchte können wir mit offenen Augen haben. Sie sind ausgereifte geistige Konstrukte unserer Gefühle und Phantasien und drängen nach Verwirklichung. Darin steckt ihre große und kreative Kraft.

Helga König:  Kann ein Mensch, der ein erfülltes Leben lebt, dennoch an Sehnsucht „leiden“? Falls ja, weshalb?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann: Erfüllung oder Glück werden allzu oft als ein Haben verstanden, nicht als ein Sein. Dann wähnen sich Menschen glücklich, weil sie vielleicht alles haben. Es geht aber aus psychologischer Sicht um das Sein, um Wachstum, Entwicklung, Veränderung, und das hört niemals auf und fordert uns stets neu heraus. Sehnsucht ist ein Stachel in der Selbstgenügsamkeit des Menschen, lässt uns immer nach dem Möglichen streben und uns nicht in Selbstzufriedenheit versinken. Alle Menschen haben ihre Sehnsüchte, manchmal sind sie ihnen gar nicht bewusst. Erst wenn sie zufällig einer Person begegnen, stellt sich plötzlich eine tiefe Sehnsucht ein, von der sie vorher nichts ahnten.

Helga König: Welchen Sinn hat Sehnsucht?


Prof. Dr. Wolfgang Hantel- Quitmann: Der Sinn der Sehnsucht ist ein doppelter: einerseits kann man mithilfe der Sehnsucht das Leben aushalten, insbesondere Schicksalsschläge der Vergangenheit oder eine unerträgliche Gegenwart. Andererseits steckt in ihr eine ungeheuer kreative Kraft, mit der man das zukünftige Leben gestalten kann.

Helga König: Ist Sehnsucht ein Gefühl, das bei phantasievollen Menschen stärker ausgeprägt ist?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann: Ja, und vielleicht sogar in quälender Weise. Die Sehnsucht bildet sich in Phantasien ab und zugleich erhält sie immer wieder neue Nahrung durch die Phantasie. Zumindest haben phantasievolle Menschen wahrscheinlich stärkere Bilder ihrer Sehnsucht und diese wirken dann als Verstärker der Sehnsucht.

Helga König:  Hat Fernweh etwas mit Sehnsucht zu tun?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann: Fernweh ist die Sehnsucht nach einem alternativen Leben in der Ferne. Und Heimweh entsteht nur in der Ferne als Sehnsucht nach der vertrauten Heimat, den Familien und Freunden. Mit dem Fernweh verbinden sich Phantasien, Hoffnungen und Wunschvorstellungen nach einem besseren anderen Leben, aber es kann auch eine Flucht aus einer unerträglichen Realität sein. Daher sollte man seine Sehnsüchte ernsthaft prüfen, bevor man sie umsetzt.

Helga König: Sind Menschen, die sich absolut im Hier und Jetzt bewegen, frei von Sehnsucht?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel- Quitmann: Nein. Alle menschlichen und vor allem emotionalen Verluste der Vergangenheit können sich in Sehnsüchten der Gegenwart abbilden, ebenso wie alle Wünsche an die Zukunft. Wir sind Kinder der Geschichte und wir haben Kinder, deren Leben in die Zukunft reichen, ein absolutes Hier und Jetzt gibt es nicht.

Helga König: Kann Sehnsucht psychisch krank machen?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann: Ja. Sehnsucht kann auch der Abwehr von starken Ängsten dienen oder als eine Flucht aus einer bedrohlichen Realität. Und dann leben manche Menschen nur noch in ihren vergangenheits- oder zukunftsorientierten Sehnsüchten und haben kaum noch Realitätskontakte. Realitätsverluste sind zugleich ein wichtiges Symptom von schweren psychischen Erkrankungen. Unerfüllbare Sehnsüchte können auch auf Dauer krank machen, wenn man sich nicht von ihnen verabschieden und sie betrauern kann.

Helga König: Was bezwecken Sie mit Ihrem Buch?

Prof. Dr. Wolfgang Hantel-Quitmann: Im Zentrum der modernen Psychologie stehen die Gefühle und die Sehnsucht ist wahrscheinlich das stärkste und kreativste Gefühl des Menschen. Bislang hat die wissenschaftliche Psychologie einen großen Bogen um die Sehnsucht gemacht, weil sie zu komplex sei. Das hat mich herausgefordert. Sehnsucht ist ein wunderbares und allzu menschliches Gefühl, das man verstehen und erklären kann.

 Lieber Herr Prof. Dr. Hantel-Quitmann, ich  danke Ihnen für das aufschlussreiche Interview.

Ihre Helga König

Foto: Prof. Dr. Hantel-Quitmann- aus seinem privaten Bestand.
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