Dieses Blog durchsuchen

Helga König im Gespräch mit Dr. Dr. Rainer Erlinger

Lieber Dr. Dr. Erlinger, vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch "Moral" rezensiert und möchte Ihnen heute hierzu einige Fragen stellen.

Helga König:  Welchen Stellenwert hat in Ihrem Denken die Ethik Kants?

© Andreas Labes/S. Fischer Verlag 
Dr. Dr. Rainer  Erlinger: Ethik Kants hat aus verschiedenen Gründen einen großen Stellenwert für mich. Zum einen ist sie streng logisch und umfassend. Man findet sehr klare Gedanken zu vielen Themen. Zum anderen stellt sie den Menschen in den Mittelpunkt und Kant hat auch die Grundlage zu unserer heutigen Definition der Menschenwürde formuliert: Dass jeder Mensch immer auch Zweck einer Handlung sein muss, niemals nur als bloßes Mittel benutzt werden darf. Und schließlich der wunderbare Aufruf der Aufklärung: Sapere aude – Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Alle Gebote und Verbote, die eine Ethik formuliert, müssen begründet werden können.

Helga König: Können Sie in wenigen Worten den Lesern mitteilen, worin Sie den Unterschied von Ethik und Moral sehen?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Die Moral sehe ich als die Grundsätze, die wir für unser Zusammenleben brauchen. Die Ethik hingegen ist die Wissenschaft, die sich mit der Moral beschäftigt, die versucht zu zeigen, wie die Moral aussehen soll und warum. Ethik ist somit ein anderes Wort für Moralphilosophie.

Helga König: Bei Piaget habe ich vor langer Zeit Wissenswertes zum moralischen Urteil bei Kindern  gelesen. Meinen Sie, dass man Menschen zu mehr moralischer Verantwortung bewegen kann, wenn man das Thema Moral mit all seinen Facetten immer wieder diskutiert?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Ja, es gibt Studien, die belegen, dass man durch die Diskussion von Dilemmasituationen, also Situationen, in denen verschiedene Werte oder moralische Gebote aufeinanderstoßen, zur Moralbildung beitragen kann. Zu nennen wäre hier vor allem Georg Lind und seine Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion.

Helga König: Wie wirkt sich ein aufgeblähtes Ego auf die Bereitschaft achtsam mit anderen umzugehen aus?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Ein aufgeblähtes Ego ist zunächst einmal etwas, das denjenigen betrifft, der es hat. Vermutlich leidet er oder sie als erster oder erste darunter. Im zweiter Linie dann aber auch die Anderen und da beginnt es das Feld der Moral zu betreffen. Problematisch wird es hier vor allem, wenn der oder die Betroffene seine eigenen Interessen über die der Anderen stellt und rücksichtslos agiert. Indem er oder sie Anderen schadet oder sich nicht ausreichend um die Anderen kümmert. Das kann auch daran liegen, dass er oder sie die Anderen nicht ausreichend beachtet und in der Folge deren Rechte, Interessen und Wünsche nicht ausreichend berücksichtigt

Helga König:  Ist Achtsamkeit der eigentliche Schlüssel für ein moralisch unbedenklicheres Verhalten?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: In gewissem Sinne kann man das so sehen. Als Kernpunkte einer modernen Moral sehe ich die Achtung vor dem Anderen als Mensch, Verständnis für seine Besonderheiten und Rücksicht auf ihn. Das alles kann aber natürlich im täglichen Leben nur funktionieren, wenn man achtsam gegenüber dem Anderen ist. Nur dann kann man ihn überhaupt erst achten, Verständnis für ihn entwickeln und Rücksicht üben.

Helga König: Ist es moralisch bedenklich, wenn man Raubbau mit seinem Körper oder seiner Seele betreibt?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Für meinen Begriff von Moral als die Summe der Grundsätze für ein Zusammenleben nur eingeschränkt. Zunächst ist es Sache jedes Einzelnen, wie er mit seinem Körper und seiner Seele umgeht. Allerdings hat das natürlich auch Auswirkungen auf die Umgebung und dann kommt man wieder in die Sphäre der Moral. Zu denken wäre etwa an den Fall, dass, derjenige oder diejenige dabei etwa Verpflichtungen vernachlässigt oder die Folgen des Raubbaus Anderen aufbürdet.

Helga König: Menschen reagieren nicht selten ablehnend auf den Begriff Moral, weil dieser häufig mit dem Begriff Moralapostel gedanklich verbunden wird. Weshalb ist das so?

Dr. Dr. Rainer Erlinger : Die Ablehnung stammt vermutlich aus einer Zeit, in der die Moral vor allem lustfeindlich gesehen wurde. Es gibt den legendären Satz des amerikanischen Kritikers und Schriftstellers Alexander Woollcott: „All the things I really like to do are either immoral, illegal or fattening. – Alle die Dinge, die ich wirklich mag, sind entweder unmoralisch, illegal oder machen dick.“ Kurz: Was Spaß macht, ist unmoralisch. Und diese Moral haben dann die sogenannten Moralapostel mit erhobenen Zeigefinger bei anderen Menschen eingefordert und ihnen Vorwürfe gemacht. Ich halte dieses Verständnis von Moral aber für falsch. Und deshalb ist es auch notwendig zu zeigen, dass die Moral dazu dienen soll, das Leben besser, nicht schlechter zu machen.

Helga König: Um unabhängig von Angst vor Strafe, moralisch sinnvoll zu agieren, bedarf es geistiger Reife. Viele Menschen erlangen diese nie, wie man im Internet sehen kann, wo unter Tarnnamen nicht wenige Erwachsene ihr Unwesen treiben und andere verleumden, nur weil sie glauben nicht entdeckt zu werden. Wieso ist es nicht möglich, dass die breite Masse aus freien Stücken moralisch unbedenklich agiert? Wieso muss mit Strafen gedroht werden?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Es ist für manche verlockend, sich seine Vorteile zu suchen und dabei notfalls auf Kosten anderer zu agieren. Ohne Moral würde wohl niemand leben wollen, weil es auf das Recht des Stärkeren hinausliefe und ein wirklich hartes Leben wäre. Das Problem sind die moralischen Trittbrettfahrer, die sich die Vorteile aus dem moralischen Verhalten Anderer sichern wollen, aber selbst nicht dazu beitragen. Schwarzfahrer sind ein Beispiel dafür. Die ehrlichen Fahrgäste bezahlen das Verkehrsmittel, der Schwarzfahrer profitiert davon. Er will, dass die UBahn fährt, er nutzt sie auch, aber er will nicht dafür bezahlen. Das funktioniert nur solange es eine verhältnismäßig kleine Menge bleibt. Und wenn man nicht alle mit der Überlegung erreicht, dass Schwarzfahren bedeutet, sich zu Lasten Anderer zu bedienen, muss man die, die man damit nicht erreicht, mit Strafen dazu anhalten, ihren Beitrag zu leisten. An dem Beispiel der Verleumdung im Internet kann man aber auch sehen, wie wichtig die Moral ist. Normalerweise müssen sich die Menschen mit dem konfrontieren lassen, was sie tun. Und dann kann die Moral ihr Gewicht entfalten, weil falsches Verhalten als unmoralisch erkannt wird und die Urheber dafür vor den Anderen zur Rechenschaft gezogen werden.

Helga König: Was ist, wenn alle Menschen respekt- und rücksichtsvoll sowie achtsam agieren? Leben wir dann im Paradies?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Im Paradies vermutlich nicht, aber es würde damit wohl auch auf Erden angenehmer. Wobei es ja auch hier nicht so schlecht darum bestellt ist: Viele Menschen verhalten sich ja auch jetzt tatsächlich so.

Helga König: Worin liegt der wirkliche Sinn von Moral?

Dr. Dr. Rainer Erlinger: Das Zusammenleben besser zu machen. Wir alle haben unsere Interessen, Bedürfnisse und Wünsche und wir sollen sie auch haben und verfolgen. Aber um diese zum Teil unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen, brauchen wir Grundsätze dafür, wie wir miteinander umgehen sollen. Und das ist die Moral.

Herzlichen Dank für das aufschlussreiche Interview, lieber Herr  Dr.Dr. Erlinger.  Es war mir ein Vergnügen Sie auf der Buchmesse in Leipzig persönlich kennenzulernen. :-))

Ihre Helga König

Bitte klicken Sie auf den Button, dann  gelangen Sie zu Amazon und können das Buch bestellen.

1 Kommentar:

  1. Für mich ist ihre fragesetzung von äußerster wichtigkeit: hier wächst eine generation von kindern heran, die sehr hart mit sich und anderen sind, wo entwertung und schlechtmachen an der tagesordung im umgang miteinander sind ( und hass unter all den abgestumpften und nicht zu findenden gefühlen, scheinbar das einzig lebendige wird) da braucht es wirklich viel mut und "durchsetzungsvermögen" dieses direkt aufzuzeigen, anzusprechen, zu spiegeln, sich darauf zu beziehen, selbst jeden entwertenden eigenen inneren und äußeren stil wahrzunehmen ...und sich zu orientieren an: ? ! zb,was mir wirklich wichtig ist ! - ich bin selber als "ungelernte Erzieherin" und mutter von 5 kinder jetzt sehr froh, jemanden wie zb jesper juul gefunden zu haben, weil mir in der pädag. ausbildung das Thema "WERTE" so schwammig und zu oberflächig war: - erst die statistik von Kohlberg, in der er die höchste stufe als "postkonventionellen Moralität" beschreibt und als eher selten erreicht ! ? ? ? erschüttert mich das und macht mir wiedermal regelrechtes entsetzen: züchten wir mit unserer so unter leistungsdruck und exsistenzängsten stehenden gesellschaft mit magelnder emphathie , fürsorglichkeit und selbstwahrnehmung erneut KANONENFUTTER ?

    AntwortenLöschen