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Helga König im Gespräch mit Prof. Dr. André Niedostadek über sein Buch "Kurvengeflüster"-Thurm

Lieber Prof. Dr. André Niedostadek,  kürzlich habe ich Ihr Buch "Kurvengeflüster" rezensiert und möchte deshalb einige Fragen an Sie richten. 

Anbei der Link zur Rezension: "Kurvengeflüster"
 
Helga König: Sie haben dem Beginn Ihres Buches drei Zitate unterschiedlicher Autoren vorangestellt. Was hat Sie zur Auswahl gerade dieser Zitate über das Reisen bewogen?

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Prof. Dr. André Niedostadek:  Solche vorangestellten Zitate finden sich ja in vielen Büchern. Ich glaube, sie können ein bisschen den "Spirit"“ eines Buches rüberbringen. Zumindest wollte ich das mit der Auswahl tun. Das Zitat des Schriftstellers James Baldwin "Ich habe viele Leute in Europa getroffen. Ich bin sogar mir selbst begegnet" passt für mich wie die Faust aufs Auge: Zum einen, weil es ja für mich einmal von Nord nach Süd durch Europa ging. Zum anderen, weil es eine Solotour war, die es zwangsläufig mit sich bringt, sich selbst besser kennenzulernen. Weil die Tour ja über Nebenstrecken und teilweise auch "offroad" abseits befestigter Straßen verlief, gefiel mir das Zitat von Fitzhugh Mullan "Kümmere dich nicht um die Schlaglöcher in der Straße und zelebriere die Reise" auch sehr gut. Es hält einen dazu an, den Fokus nicht zu verlieren. Auch wenn es durchaus angebracht ist, auf Schlaglöcher zu achten, gerade wenn man mit dem Motorrad unterwegs ist! Als jemand, der als Kind in den 1980er Jahren aufgewachsen ist und eine besondere Beziehung zur Musik hat, wollte ich unbedingt auch den Musiker Billy Idol mit hineinnehmen und das aus zweierlei Gründen: Zum einen spielt Musik in dem Buch ja selbst verschiedentlich eine große Rolle. Zudem gefällt mir seine Aufforderung "Das Leben ist eine Reise. Nimm nicht so viel Gepäck mit". Damit schreibt er uns ja auch noch einmal ins Stammbuch, wie wichtig es ist, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Das ist eine Erfahrung, die ich auf der Tour gleich mehrfach machen konnte. 

 Helga König

Helga König:
Ihre Motorradreise entlang der "Via Francigena" haben   Sie mit Ihrer Honda Deauville NT 700 unternommen. Wie nimmt man     Landschaften, deren Farben und Düfte als Motorradfahrer wahr? 

Prof. Dr. André Niedostadek: Ich glaube, das hängt von mehreren Faktoren ab, wie dem persönlichen Fahrstil, der      Verkehrssituation oder auch der eigenen Ausrüstung. Wem es      nicht darauf ankommt, stets am Limit zu fahren, hat sicher    mehr   Möglichkeiten, die Landschaft wahrzunehmen. Und weil  man anders als im Auto auf dem Motorrad ja nicht so eingepfercht ist, kann man die Umwelt bewusster genießen. Apropos: Ich selbst fahre gelegentlich auch mit offenem Visier, was mich gerade in Südengland in echtes Erstaunen versetzt hat: Dort in der Grafschaft Kent, dem Garten Englands, blies mir der Fahrtwind mit einem Mal sogar eine Prise Lavendelduft direkt vor die Nase. Das war sehr beeindruckend. 

Helga König: Sie schreiben, dass Ihre Schulzeit an einem bischöflichen Gymnasium, Sie sicherlich in vieler Hinsicht geprägt habe, Sie jedoch nicht sonderlich religiös seien, aber eine gewisse Spiritualität von jedem in uns stecke. Demnach auch in Ihnen. Hat gerade dieses Quäntchen dazu geführt, die Via Francigena entlangzureisen und wenn ja, wie zeigte sich Ihnen das im Vorfeld? 

Prof. Dr. André Niedostadek:  
Nicht in erster Linie. Allenfalls vielleicht ein bisschen. Ich habe durch meine Biografie eine besondere Beziehung zu Großbritannien und zu Italien. Weil die Via Francigena genau diese beiden Länder verbindet, stand es als Lebensziel lange Zeit auf meiner persönlichen "Bucket List", diesen Weg in Angriff zu nehmen. Das war der maßgebliche Antrieb. Aber weil die Via Francigena ja vor allem als Pilgerweg bekannt ist, bietet es sich natürlich an, auch über Themen wie Glaube und Spiritualität nachzudenken. Das hat aber weniger im Vorfeld eine Rolle gespielt. Eher während der Reise. Vor allem dann, wenn wieder mal etwas nicht geklappt hat oder, was ja auch passiert ist, es nicht mehr weitergegangen ist, weil ich stecken geblieben bin. Aber am Ende fügte sich doch alles.

Helga König: Sigerich von Canterbury pilgerte im Jahre 990 von Canterbury nach Rom und hat 80 Stationen seiner Reise schriftlich festgehalten. Decken sich die wesentlichen Stationen, an denen Sie Rast gemacht haben, mit seinen oder gibt es nennenswerte Unterschiede? 

Prof. Dr. André Niedostadek:  Tatsächlich war ich bemüht, mich an den bekannten Stationen zu orientieren. Das würde ich auch jedem empfehlen, wenn man darüber nachdenkt, die Via Francigena selbst einmal anzugehen. Es geht ja durch ganz wunderbare Städte, wie Reims, Montreux oder Siena. Lediglich ein einziges Mal bin ich ein bisschen vom Weg abgewichen. Der Grund war ganz banal: Ich habe ja im Vorfeld keine Unterkünfte gebucht, sondern bin immer aufs Geratewohl gefahren. Das hat auch wunderbar geklappt. Fast jedenfalls. Einmal habe ich in Italien nur etwas abseits eine Unterkunft gefunden. Mit dem Motorrad war das jedoch überhaupt kein Problem. Und am nächsten Tag war ich wieder auf der richtigen Spur. 

Helga König: Sie erwähnen zahlreiche Dichter und Denker, die an Orten, die Sie besucht haben, geboren wurden oder auch lebten. Ist ein Intellektueller wie Denis Diderot Ihrer Meinung nach ein Mensch, der auch ins Hier und Heute passen würde? 

Prof. Dr. André Niedostadek:  Manchmal würde ich unglaublich gern eine Zeitreise unternehmen, um beispielsweise Persönlichkeiten der Geschichte zu begegnen. Ob so ein berühmter Denker wie Denis Diderot tatsächlich so war, wie ich in skizziert habe, weiß ich natürlich nicht. Aber ich stelle schon vor, dass er gut in die heutige Zeit passen würde. Eine Persönlichkeit mit einem eigenen Kopf, in der Sache bestimmt aber im Umgangston nicht harsch. Im Gegenteil soll er ja einen sympathischen und zuvorkommenden Charakter gehabt haben. So jemand könnte unsere heutige Debattenkultur – wenn man das, was gerade in den sozialen Netzwerken so abgeht überhaupt so nennen möchte – bereichern. Ja, ich glaube, er würde in die heutige Zeit passen. 

Helga König: Ein Reisender auf der Via Francigena braucht Kraft, um durchzuhalten. Wie sieht nach Ihren Vorstellungen eine gute Pilgerreisemahlzeit in Frankreich, wie in der Schweiz und wie in Italien aus?

Prof. Dr. André Niedostadek:  … oder auch in England. In früheren Zeiten waren das sicher keine Gelage. Auch heute sind sie das natürlich nicht. Mit vollem Bauch reist es sich einfach nicht so gut. Nein, aber im Ernst. Die Vorstellungen einer guten Pilgerreisemahlzeit gehen da sicher auseinander. Ich halte es so, dass ich stets schaue, was regional so auf den Teller kommt. Das kann auch schon einmal eine Sünde sein, so wie Welsh Rarebit. Eigentlich ein walisisches Rezept, das aber, für mich überraschend, auch im französischen Arras Tradition hat. Richtig böse: Ein mit Kochschinken belegtes Toastbrot, großzügig mit Cheddar belegt und überbacken; alles abgeschmeckt mit Senf, Bier, Salz und Pfeffer. Dazu auch noch eine Portion Fritten, die dort ebenfalls überaus beliebt sind. Das wäre auch mein Tipp: Sich darauf einlassen, was die Region so bietet. Und da ergibt sich ja quer durch alle Länder hindurch eine bunte Vielfalt. 

Helga König: Motoradfahren in der Berglandschaft der Schweiz ist sicher keine Spazierfahrt. Wie haben Romreisende diese Hardcorestrecke in der Unwegsamkeit des frühen Mittelalters überhaupt zu Fuß geschafft?   Der Kompass wurde meines Wissens ja erst im 13. Jahrhundert erfunden … 

Prof. Dr. André Niedostadek:  Oh, da würde ich sogar widersprechen. Mit dem Motorrad ist es eine echte Spazierfahrt! Die Strecke ist gar nicht einmal so anspruchsvoll und meiner Einschätzung nach selbst für Beginner gut machbar. Ich bin später in der Toskana einmal vom Weg abgekommen, was fahrerisch wesentlich herausfordernder war der Trip durch die Alpen. Aber ich gebe Ihnen vollkommen Recht. Wie man das im Mittelalter zu Fuß geschafft hat, keine Ahnung. Selbst im Sommer kann es in den hochgelegenen Regionen ungemütlich werden. Ich bewundere ja selbst diejenigen, die ein solches Unterfangen heute per pedes absolvieren. Und da ist man ja viel professioneller ausgestattet. Allerdings war man in weit zurückliegender Zeit nicht auf unbekannten Pfaden unterwegs. Das waren ja auch Handelsrouten. Und im Zweifel wird man sich auf Ortskundige verlassen haben. 

Helga König: Für kulturell und kulinarisch Interessierte ist die Ablenkung vom Spirituellen und Religiösen auf der Via Francigena ja alles andere als gering oder braucht es gerade diese Ablenkungen, um irgendwann schließlich zu einer spirituellen Erkenntnis zu gelangen? 

Prof. Dr. André Niedostadek:  Das ist eine echt komplizierte Frage. Ich will mal so sagen: Beides geht ein bisschen Hand in Hand. Wie schon gesagt, bin ich selbst ja nicht aus einem besonders spirituellem Grund unterwegs gewesen. Auch wenn ich, wie Sie schon erwähnt haben, tatsächlich davon überzeugt bin, dass eine gewisse Spiritualität ganz menschlich ist, losgelöst von einer bestimmten Religion. Spiritualität hat ja auch immer etwas zu tun mit Werten oder Sinnfragen. Da kann selbst etwas Kulinarisches einen weiterbringen. In Italien war ich beispielsweise auf die Bewegung "Cittaslow" gestoßen. Dabei geht es, ganz kurz und vereinfacht gesagt, darum bewusster zu leben. Schon das kann inspirieren. Und Inspiration und Spiritualität hängen durchaus begrifflich zusammen. In beiden steckt das Wort "Spiritus", also Seele oder Geist. 

Helga König: Was hat Sie in der Toskana am meisten fasziniert?

Prof. Dr. André Niedostadek:  Ich hoffe, das klingt nicht enttäuschend: Gar nichts hat mich am meisten fasziniert. Die Toskana ist insgesamt faszinierend. Es gibt ja diese drei „K“ für die Toskana: Kunst, Kultur und Kulinarik. Wer dort mit dem Motorrad unterwegs ist, wird noch ein viertes „K“ ergänzen wollen: K wie Kurven. Ein einziges Highlight könnte ich da wirklich nicht nennen. Zumal ich mich auf dieser Tour speziell in der Toskana auch ein bisschen um Kunst und Kultur gedrückt habe. 

Helga König: War Rom das tatsächliche Ziel ihrer Reise? 

Prof. Dr. André Niedostadek:  
Auf den ersten Blick könnte man das denken, klar. Schließlich verläuft die Via Francigena ja nun einmal von Canterbury nach Rom. Aber es gibt ja dieses Bonmot, wonach der Weg das Ziel ist. Klingt vielleicht ein wenig abgedroschen, aber für diese Tour würde ich das auf jeden Fall so unterschreiben. Daher eine ehrliche Antwort: Das eigentliche Ziel, war nicht ein bestimmter Endpunkt, sondern das Projekt „Via Francigena“ überhaupt anzugehen. Komplett. Und das hat – mit allen Höhen und Tiefen – geklappt. Und mir am Ende einmal mehr vor Augen geführt, wie lohnend es ist, sich überhaupt ein paar Ziele zu setzen. Immer wieder neu. Vielleicht tun wir das manchmal zu selten. Es müssen ja gar nicht die ganz großen Dinge sein. Aber ich bin überzeugt, dass Ziele ein guter Schlüssel sind für ein erfüllteres Leben. Diesen Schlüssel hat man selbst in der Hand. Man braucht ihn nur zu nutzen.

Lieber Prof. Dr. André Niedostadek,  herzlichen Dank für das informative, schöne Gespräch.

Ihre Helga König

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