Lieber Prof. Dr. Götz Aly, vor geraumer Zeit habe ich Ihr Buch "Europa gegen die Juden 1880 – 1945" auf "Buch, Kultur und Lifestyle" rezensiert. Dazu möchte ich heute einige Fragen an Sie richten
Anbei der Link zur Rezension: "Europa gegen die Juden 1880 – 1945"
Peter J. König: Gibt es eine Erklärung dafür, dass der Hass auf die Juden, der in Europa schon vor dem "Dritten Reich" massiv vorhanden war, in den Geschichtsbüchern der Nachkriegszeit, wenn überhaupt, kaum Beachtung gefunden hat?
Prof. Dr. Götz Aly Foto: Andreas Labes |
Prof. Dr. Götz Aly: Ja, das schlechte Gewissen so vieler Europäer, die vom Massenmord an den europäischen Juden profitiert hatten. Sie wussten spätestens seit 1945, dass ihr offener oder verborgener Antisemitismus, ihre Habsucht oder Gleichgültigkeit und ihre Wünsche, die Juden irgendwie loszuwerden, zu diesem Menschheitsverbrechen beigetragen hatten. Von deutscher Seite konnten die Fragen nach europäischen Mittäterschaften nicht gestellt werden, das hätte von der deutschen Hauptverantwortung, von der deutschen Tatherrschaft abgelenkt. Auch in Deutschland dauerte es sehr lange, bis sich die große Mehrheit der Bevölkerung und mit ihr die politischen Repräsentanten bereitfanden, die Ursachen des Holocaust nicht auf Hitler und dessen "Schergen" oder "Paladine" zu reduzieren, sondern den weit über die Wählerschaft Hitlers hinaus verbreiteten Antisemitismus als wesentliche Voraussetzung für den Judenmord zu akzeptieren. Erst spät wurde es möglich, die vielen arbeitsteilig mitwirkenden Helfershelfer, die Jubelnazis, die kleinen Mitläufer und Profiteure in die Betrachtung einzubeziehen.
Peter J. König |
Peter J. König: Interessant ist zu erfahren, warum aus einer jüdischen Glaubensgemeinschaft eine ethnische Volksgruppe ausgemacht wurde, wo doch die Anhänger des jüdischen Glaubens völlig unterschiedliche Ethnien besitzen? Wo ist der Grund zu suchen?
Prof. Dr. Götz Aly: Das Judentum unterscheidet sich vom Christentum deutlich. Es umfasst nicht nur religiöse Vorschriften, sondern Gesetze und Regeln, die den Alltag, die gesamte Lebensführung betreffen. Zudem ist das Judentum eine individuelle und intellektuelle Religion: Jeder Einzelne soll die heiligen Schriften lesen können, sich seine Gedanken über die richtige Interpretation und Anwendung der sinaitischen Schriften machen. Das heißt: Ein Jude glaubt nicht einfach, was ein Rabbiner erzählt, und betet ein paar liturgisch festgelegte Formeln, sondern streitet sich mit seinen Glaubensgenossen über die richtige Auslegung der heiligen Texte. Juden bilden keine Ethnie, sondern eine distinguierte Gesetzesgemeinschaft. Geschichtlich waren sie ein Volk bis zur Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem durch die Römer (70 n.Chr.). Dann wurden sie in der europäischen Moderne in Reaktion auf den immer stärkeren Antisemitismus wieder zum Volk. Der Zionismus war eine klare, auf Selbstschutz bedachte Antwort auf den europäischen Nationalismus.
Peter J. König: Die Juden mussten seit jeher als Sündenböcke für alles Schlechte, aber auch für alle hinterhältigen Machenschaften von jeglichen Machthabern herhalten. Spielt dies auch in der Zeit von 1880 bis 1945 eine Rolle, in der es zu verstärktem Hass gegen Juden kam?
Prof. Dr. Götz Aly: Ja. Angeblich waren die Juden schuld an der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg, in Deutschland am Versailler Friedensvertrag, in Ungarn am Friedensvertrag von Trianon. Ihnen wurde die Verantwortung für die bolschewistische Revolution, für das Wirken von "Plutokraten", für Inflation und Weltwirtschaftskrise in die Schuhe geschoben. Im Prinzip wurde jedes soziale, wirtschaftliche und militärische Problem auf angebliche Intrigen und volksfeindliche Machenschaften der jeweiligen Juden zurückgeführt. Vom Zweiten Weltkrieg behaupteten Hitler und Goebbels hundertfach er sei ein "jüdischer Krieg", angeblich angezettelt vom Weltjudentum.
Peter J. König: Warum hat die Aufklärung Descartes, Kants, Voltaires und anderer europäischer Aufklärer in dieser hier besprochenen Zeit bei den Eliten so kläglich versagt?
Prof. Dr. Götz Aly Foto: Andreas Labes |
Prof. Dr. Götz Aly: Zunächst sollte nicht vergessen werden, dass der Aufklärer Voltaire, die Juden ständig verächtlich machte. Aufklärung und Rationalismus konnten Judenfeindschaft ausschließen, denken wir nur an. Dabei ging es ihm um die Überwindung alter religiös grundierter Vorurteile. Die neuen, sozial- und wirtschaftspolitisch motivierten, von denen mein Buch "Europa gegen die Juden" handelt, entwickelten sich erst im 19. Jahrhundert, verursacht von den Stürmen und sozialen Verwerfungen der industriellen Revolution und auch der zunehmenden Teilhabe des Volke an der Politik. Auch das allgemeine Wahlrecht, also demokratisierende Verfahren, begünstigte die organisatorische und geistige Formierung des modernen Antisemitismus.
Peter J. König |
Peter J. König: Das Buch beruht auf einer Fülle von Quellen, die genau belegen, was sich in den einzelnen europäischen Staaten bezüglich der Judenpogrome, der Vertreibung und Unterdrückung abgespielt hat. Ist davon auszugehen, dass diese Dokumentationen weitestgehend die schrecklichen Ereignisse erfasst haben, oder ist mit fortschreitender Geschichtsforschung noch vieles an Aufdeckung zu erwarten?
Prof. Dr. Götz Aly: Ich meine, dass mir auf meiner Materialbasis eine hinreichende und dokumentarisch gestützte Synthese gelungen ist. Sie beruht notwendigerweise auf Auslassungen und stark komprimierten Passagen. Zu den Quellen, die ich benutzt habe, gibt es ein Vielzahl ähnlicher Quellen. Doch werden diese das Gesamtbild nicht wesentlich verändern: die Förderung der nationalen Eliten auf Kosten der Minderheiten, insbesondere der Juden; die ethnokratischen Programme zu Hellenisierung, Romanisierung, Polonisierung usw.; der Elitenwechsel und systematische Russifizierung in Stalins Sowjetunion; die Angst, von munteren, weltläufigen und intelligenten Juden wirtschaftlich und geistig überflügelt zu werden; der sehr ausgeprägter nationaler Protektionismus für bestimmte Berufe etwa in Frankreich; die Habsucht und das Ausnutzen der Wehrlosigkeit der Juden, die nur selten Schutz fanden, weil sie weder über einen Staat noch über eine Armee verfügten.
Peter J. König: Wenn man wie Sie, Herr Aly, sich mit dem Thema der Judenverfolgungen und Pogrome intensiv befasst, sowohl seitens der Deutschen, als auch anderer europäischer Völker, wie sieht es da mit der Unterstützung aus den betroffenen Ländern aus?
Prof. Dr. Götz Aly: Diese Frage kann ich nicht pauschal beantworten. Ich habe viele gedruckte Quellen benutzt, das ist im Fall einer solchen Studie notwendig. Doch wurden diese Quellen von rumänischen, bulgarischen, oder französischen Wissenschaftlern veröffentlicht, oft natürlich auch von Juden, die in diesen Staaten leben oder dort familiäre Wurzeln haben. Insgesamt ist der Archivzugang liberal, nur Griechenland bildet eine negative Ausnahme. Man findet keine Veröffentlichung, in der Quellen aus griechischen Staatsarchiven zitiert werden, die vom Verhalten der griechischen Kollaborationsregierung und insbesondere der für Thessaloniki zuständigen griechischen Behörden handeln.
Peter J. König: Was halten Sie eigentlich von der Tatsache, dass sich die Juden nach eigenen Aussagen in einigen Ländern in Europa nicht mehr sicher fühlen, selbst in Frankreich und Deutschland, Polen und Ungarn nicht? Und was sollte uns das zu denken geben?
Prof. Dr. Götz Aly Foto: Andreas Labes |
Prof. Dr. Götz Aly: Es ist bedrückend, dass jüdische Institutionen – Synagogen, Schulen, Kindergärten, Buchhandlungen – in fast allen Staaten Europas besonders geschützt werden müssen. Wenn ich in Berlin einen einzelnen Juden mit Kippa auf der Straße sehe, denke ich automatisch: Der ist aber mutig. Gleichzeitig denke ich: Was für eine Schande für mein Land, dass mir das als Erstes einfällt. Juden sind von rechten Nationalisten bedroht, von Linksradikalen, die sich "Antizionisten" nennen, und von einem beachtlichen Teil der muslimischen Zuwanderer. Parallel dazu gibt es unendlich viele nichtjüdische Deutsche, die beglückt darüber sind, dass wieder mehr Juden in Deutschland leben, und die wollen, dass die jüdischen Deutschen, hier arbeitende Israelis und jüdische Touristen oder Zuwanderer aus Osteuropa in unserem Land in Frieden und respektiert leben können. Aber: Arabisch sprechend oder mit Kopftuch kann man in Berlin bequem und sicher U-Bahn fahren, nicht jedoch mit einer Kippa, einem Gebetsmantel oder Davidstern.
Peter J. König |
Peter J. König: Müssen wir mit einer neuen Hasswelle gegen Juden rechnen, wenn auch in den USA der Rechtsradikalismus sich erschreckend präsent zeigt, wie jüngst in Charlottesville?
Prof. Dr. Götz Aly: In Frankreich und Deutschland bestehen insoweit größere Probleme als in den USA.
Peter J. König: Etwas hypothetisch gefragt. Hätte ein Judenstaat hundert Jahre früher gegründet, die Massaker an Juden und den Holocaust eventuell verhindern können?
Prof. Dr. Götz Aly: Historiker sind keine rückwärtsgewandten Hypothetiker für alternative Geschichtsverläufe. Aber ich bin sicher, dass ein solcher schon bestehender jüdischer Staat den geschichtlichen Verlauf bedeutend verändert hätte, und zwar zugunsten der Juden. Nur: Die seit 1880 verschiedentlich entwickelte Idee von einem eigenen jüdischen Staat war eine Antwort auf den zunehmend unduldsamen und ethnisch verstandenen europäischen Hypernationalismus. Den hatte es 50 Jahre zuvor nicht gegeben. Deshalb entstanden der Zionismus und der säkular gedachte Wunsch nach einer "Heimstätte für das jüdische Volk" erst im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Peter J. König: Gibt es eigentlich den Versuch, Ihr neuestes Buch "Europa gegen die Juden" unglaubwürdig zu machen oder es gar zu boykottieren in den betroffenen Ländern?
Prof. Dr. Götz Aly Foto: Andreas Labes |
Prof. Dr. Götz Aly: Das Buch ist noch relativ neu. Ich habe aus Ungarn, Schweden, Frankreich, Dänemark, Israel und den USA interessierte und freundliche Reaktionen erhalten, auch von meinem Publikum. Ich habe am Jahresende etwa 50, fast immer ausverkaufte Lesungen veranstaltet. Das Publikum ist großartig und sehr interessiert. Negativ, zum
Teil gehässig und ins Persönliche gehend verfuhren einige Rezensentinnen und Rezensenten aus der deutschen Fachwissenschaft. Diese agiert sehr selbstbezogen und selbstgefällig, obwohl (oder weil?) sie zu großen Überblicksarbeiten unfähig ist. Es dauert in der Regel etwa zehn Jahre, bis meine Ergebnisse stückweise von diesen Kollegen und Kolleginnen übernommen und nachformuliert werden, dann allerdings ohne mich zu zitieren. All das überrascht und beunruhigt mich schon lange nicht mehr.
Lieber Prof. Dr. Götz Aly, ich danke Ihnen herzlich für das aufschlussreiche Interview
Ihr Peter Jakob König
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